Begingen Wissenschaftler Völkermord am Amazonas?

In den siebziger Jahren gab es im Amazonas-Gebiet 20.000 Yanomami, heute sind es nur noch 10.000. Lösten US-Wissenschaftler eine verheerende Masern-Epidemie aus?

Das Buch des US-Autors Patrick Tierney ist noch gar nicht erschienen. Doch die Thesen, die er darin aufstellt, entfachen jetzt schon eine spannende Diskussion unter Anthropologen und Wissenschaftlern. Tierney nimmt an, dass US-Wissenschaftler im Amazonas-Gebiet eine Masernepidemie auslösten, die tausenden das Leben gekostet haben könnte.

Im Jahr 1968 startete eine Expedition zu den Yanomami Venezuelas, einem dortigen indianischen Volksstamm. In Auftrag gegeben war die Forschungsreise von der Kommission für Atomenergie, die Blut der Indianer für Strahlungstests verwenden wollte. Der Genetiker James Neel der Universität Michigan, ein anerkannter Pionier der Gentechnik, und der Anthropologe Napoleon Chagnon , der heute als Professor für Soziobiologie an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara lehrt, leiteten die Expedition. Die Wissenschaftler impften Yanomami-Indianer gegen Masern: 2000 Dosen Impfstoff hatten sie mitgebracht.

Der Autor des Buches ( "Darkness in El Dorado" ) behauptet nun, die vermeintlichen Wohltäter lösten gerade damit eine verheerende Masern-Epidemie aus: Der Volksstamm zählt heute noch etwa 10.000 Mitglieder - halb so viele wie 1968. Tierney vermutet, dass Neel durch die Impfung einige der Yanomami mit Masern infizierte - und die Krankheit sich so epidemieartig verbreiten konnte. Anstatt der Epidemie jedoch abzuhelfen, habe Neel jedoch lieber ihren Verlauf studiert.

Medizinern zufolge ist es da erste Mal, dass diese These aufgestellt wird. Fest steht jedoch, dass bereits damals Nebenwirkungen des Masernimpfstoff Edmonston B, der auch im Rahmen der Expedition verwandt wurde, bekannt waren. In den sechziger Jahren war er noch Standard-Impfstoff, in den frühen Siebzigern wurde er aber bereits vom Markt genommen.

Die vehementen Anschuldigungen des Buchautors Tierney sind unter Anthropologen derzeit heiß umstritten. Professor Thomas Headland ist einer der wenigen, die das Buch im vorab gelesen haben, und zudem ein Kritiker des Anthropologen Chagnon. "Wir lieben uns nicht eben, Chagnon und ich", erklärt er. Dennoch hat Headland seine Zweifel: "Ich glaube nicht, auch nicht, nachdem ich Tierneys Buch gelesen habe, dass Chagnon des Genozids schuldig ist. Oder dass er absichtlich dazu beigetragen hat, Masern in den Volksstamm der Yanomami einzuführen und zu verbreiten." Er glaubt auch nicht an die Ausschweifungen, die der Autor dem Genetiker vorwirft: Tierney behauptet, Neel habe sich während der Forschungen an Mädchen des Dorfes vergriffen.

Die Amerikanische Anthropologenvereinigung (AAA) kommentiert das Buch sehr vorsichtig, betonte, dass die Vorwürfe diejenigen des Autors seien und kündigte eine offene Diskussion im Rahmen der diesjährigen Tagung in San Francisco an. Denn die fällt mit dem Erscheinungsdatum des umstrittenen Buches zusammen. Doch, wie um Patrick Tierney zu unterstützen, zitiert sie einige Passagen aus dem ethischen Kodex des Verbandes: "Anthropologen müssen gewährleisten, dass ihre Forschungen die Sicherheit, Würde und Privatsphäre des Volkes, mit dem sie arbeiten, nicht verletzen."