U-Haft im Kristall

Münchner Physiker fanden einen Trick, mit dem sich Licht auf einen Bruchteil seiner normalen Geschwindigkeit herunterbremsen lässt.

Rund 300 000 Kilometer legt ein Lichtstrahl je Sekunde zurück - zum Glück. Denn bräuchte ein Schimmer vom Moment des Entstehens zum Betrachter nach Alltagsmaßstäben nennenswerte Zeit, wäre ein Augenblick nicht so kurz wie ein Augenblick.

Auch Ingenieure freuen sich über das Tempo, denn so können Lichtimpulse ungeheure Informationsmengen mit aberwitzigen Geschwindigkeiten übermitteln. Unzählige Kilometer von Glasfaserkabeln werden darum Tag für Tag in der Erde vergraben, um die Datennetze der Zukunft zu knüpfen.

Doch bisweilen bereitet die Hurtigkeit des Lichts arges Kopfzerbrechen, denn seine Strahlen können nicht anders als mit Maximalgeschwindigkeit herumsausen. Gern würden Telekommunikationsexperten die Lichtnachrichten in optischen Datennetzen auch ohne Umweg durch elektronische Schaltungen weiterverarbeiten, Informatiker träumen von unvorstellbar schnellen "optischen Computern" - doch das scheint utopisch, weil die flüchtigen Lichtblitze sich bisher nicht zum Sortieren und Verrechnen einfangen lassen.

Münchner Physiker haben einen Ausweg aus diesem Dilemma entdeckt: Sie fanden eine Methode, mit der sich Licht vorübergehend in Untersuchungshaft nehmen lässt.

Von "Photonenförderbändern" und "surfenden Elektronen" spricht Achim Wixforth, 42, wenn er die Experimente erklärt, die die Fachwelt in Erstaunen setzen. Er benutzt die trickreiche Kombination verschiedener physikalischer Effekte, etwa die Veränderung eines Kristalls durch Schallwellen, um das Licht einzufangen.

Knapp 400 000stel Sekunden Speicherzeit konnte er mit seinen Methoden schon erzielen - nach Lichtmaßstäben eine Ewigkeit: Ungehindert wäre das Leuchten in dieser Zeit schon zehn Kilometer davongeeilt.

Wixforths Lichtfalle besteht aus einem wenige Millimeter messenden Kristall aus verschiedenen Galliumarsenid-Verbindungen. Solche sogenannten Quantentöpfe sind die Basis vieler Halbleiter-Bauelemente, zum Beispiel auch des Lasers, der im CD-Player die Platten abtastet.

Im Quantentopf sind die Elektronen in einer hauchdünnen Schicht unter der Oberfläche des Kristalls gefangen. Trifft Licht auf den Halbleiter, entstehen positive und negative Ladungen, die normalerweise unmittelbar, der Kraft ihrer wechselseitigen Anziehung folgend, zusammenprallen und ihr kurzes Leben unter Aussendung eines Lichtblitzes wieder aushauchen.

Wixforth und seine Mitarbeiter fanden einen Weg, die spontane Vereinigung zu verhindern: Sie lassen eine Schallwelle durch den Kristall laufen. Dabei nutzen sie aus, dass Galliumarsenid piezoelektrisch ist - es verformt sich unter dem Einfluss elektrischer Felder (siehe Graphik).

Fingerförmige Elektroden auf seiner Oberfläche lösen unter dem Einfluss einer Wechselspannung von etwa einer Milliarde Schwingungen pro Sekunde eine Art Mini-Beben in dem Kristall aus. Wie eine Falte durch ein kräftig gebeuteltes Bettlaken läuft die angeregte Schwingung als Welle über die Oberfläche.

Die Wellen sind winzig. Ihre Kämme sind nur einige millionstel Millimeter hoch, Berge und Täler liegen rund einen tausendstel Millimeter auseinander, doch der Effekt ist enorm: Das Beben knetet den Halbleiter mit Drücken von 10 000 Bar durch, und mit der Welle rast ein elektrisches Feld von einigen tausend Volt je Zentimeter Stärke durch den Kristall.

Dieses Feld reißt jene Ladungen auseinander, die durch einfallende Lichtblitze entstehen, und zwingt sie, wie Surfer mit der Schallwelle über den Kristall zu reisen. Im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit bewegen sich die Ladungen nun geradezu im Schneckentempo: Während jener Zeit, in der ein Lichtstrahl schon einen Kilometer zurückgelegt hätte, kommen die surfenden Ladungen gerade mal einen Zentimeter voran.

Ein dünner Metallfilm am anderen Ende des Kristalls beendet die Untersuchungshaft. Läuft die Welle auf diesen Strand, schließt der Metallbelag das elektrische Feld kurz - prompt stürzen sich die gefangenen Ladungen aufeinander und setzen den gespeicherten Lichtblitz wieder frei.

"Es gibt keinen offensichtlichen physikalischen Grund, der der Speicherzeit Grenzen setzt", erläutert Wixforth, "wie lange das geht, müssen wir erst noch herausfinden."

Schon die bereits erreichte Haftzeit ist sensationell lang. Bisher bleibt Technikern ohne Zuhilfenahme von Elektronik nichts anders übrig, als kilometerlange Glasfaserumwege, die meist auf klobige Spulen gewickelt sind, in ihre Netze zu schalten, wenn Lichtimpulse auch nur millionstel Sekunden verzögert werden sollen. Wixforths Kristall-Surfsee könnte die Aufgabe in einem kompakten Bauelement erfüllen.

Der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt: Die in der Schallwelle gefangenen Lichtblitze lassen sich nach Belieben herumschubsen. So können zwei Schallwellen, die den Kristall im rechten Winkel zueinander durchqueren, das Licht an beliebige Orte auf dem Halbleiter transportieren, bevor sie es wieder freilassen. So ließen sich Daten zwischen verschiedenen Glasfasern hin- und herschalten.

Als nächstes wollen die Forscher einen Kristall präparieren, in dem verschieden umlaufende Schallwellen das eingesperrte Licht im Kreis bugsieren. "Vielleicht können wir Impulse dann sogar für eine Sekunde festhalten", mutmaßt Doktorand Martin Streibl.

Streibl hat, einer spontanen Idee folgend, auch noch eine Art Kamera nach diesem Prinzip gebaut. Weil die vom Licht erzeugten Ladungen ihrerseits die Ausbreitung der Schallwelle beeinflussen, lässt sich aus der Analyse des Schalls das Lichtmuster auf dem Halbleiterkristall rekonstruieren. Wie ein Computertomograph aus Schatten im Röntgenbild ein Bild des Körperinnern errechnet, haben die Forscher in ersten Experimenten schon einfache, auf die Probe projizierte Buchstaben per Computer wieder sichtbar gemacht.

Selten ist der praktische Nutzen eines neuen physikalischen Effektes so offensichtlich wie im Fall des Münchner Lichtspeichers. Die Forschungslabors der großen Telekommunikationskonzerne arbeiten seit Jahren daran, die Kapazität der Datenstrecken zu erhöhen - an Lichtwellen als Übertragungsmedium führt kein Weg vorbei.

Wixforth erhielt für seine Entdeckung letztes Jahr den Walter-Schottky-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, doch auch wenn Hochschulpolitiker in Grundsatzreden immer wieder mehr Anwendungsnähe von den Universitäten fordern - Unterstützung für die Weiterentwicklung seiner Idee zur Praxisreife fand der Physiker bisher nicht.

Die Gebühren für mehrere deutsche Patente auf die Technik zahlten die Forscher aus eigener Tasche. Den nächsten Schritt, ein Weltpatent, das mit Anwaltsgebühren etwa 100 000 Mark kosten würde, können sie sich nicht leisten.

Selbst eigens gegründete Patentberatungsstellen für Hochschulforscher geben Entwicklungen, die auch nur einige Jahre von der Anwendung entfernt sind, kaum eine Chance: Solche Gremien, so musste der Wissenschaftler inzwischen mehrfach feststellen, interessierten sich meist nur für marktreife Bauelemente, "bei denen man nur noch über die Farbe des Gehäuses nachzudenken braucht".