Schneller, als Einstein erlaubt

Erstmals wurde 300fache Lichtgeschwindigkeit gemessen - auf sechs Zentimetern

von Alexander Pawlak

Allen Lehrbüchern zufolge gehorchen die Resultate der Physik zwei unumstößlichen Grundsätzen. Erstens: Jeder Wirkung geht ihre Ursache voraus. Und zweitens gilt nach Einsteins Relativitätstheorie: Keine Wirkung bewegt sich schneller als die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum - 300000 Kilometer pro Sekunde. Doch nun scheint Lijun Wang die Physik auf den Kopf zu stellen. In den NEC-Forschungslaboratorien in Princeton will er einen Lichtpuls schneller gemacht haben, als Einstein erlaubt. Damit ließen sich im Prinzip Wirkung und Ursache vertauschen.

Muss die Physik also umgeschrieben, das "Kausalitätsprinzip" revidiert werden? Seit Wochen wird Wang mit Anfragen dieser Art überflutet. Nun wird in Nature (Bd. 406, S. 277) das Geheimnis gelüftet. In dem Experiment durchquert ein Lichtpuls im Mikrowellenbereich eine sechs Zentimeter lange gekühlte Kammer, die Cäsium-Atome enthält. Dabei kommt es zu komplizierten Absorptions- und Emissionsprozessen. Am Ende lässt sich das Signal tatsächlich 62 Nanosekunden früher nachweisen, als wenn es den Weg durch das Vakuum genommen hätte - das entspräche rechnerisch dem 300fachen der Vakuumlichtgeschwindigkeit.

Nun ist Wangs Experiment nicht das erste seiner Art. Auch Raymond Chiao von der Universität in Berkeley, Kalifornien, und Günther Nimtz von der Universität Köln hatten in der Vergangenheit ähnliche Ergebnisse erzielt. Dabei wurde allerdings das Signal entweder stark abgeschwächt oder in seiner Form so verzerrt, dass die Interpretation der Versuche höchst umstritten war. Während Nimtz darauf beharrte, überlichtschnelle Signale erzeugt zu haben, winkte Raymond Chiao immer ab. Er griff zu einer Analogie aus der Küche: Man stelle sich die übertragenen Lichtpulse vor wie Luftblasen in einem Brotteig. Beim Auswallen mit einem Nudelholz verändert man ihre Form: Der Hauptberg, und damit die obere Spitze der Blase, wird nach vorn gedrückt. Im Vergleich zur Blasenfront - sie wird beim Auswallen mit konstanter Geschwindigkeit vorwärts gedrückt - bewegt sich die obere Spitze des Luftbergs ein wenig schneller.

Wang gelang nun das Kunststück, sein Signal nahezu unverzerrt zu übertragen. Die entscheidende Frage bleibt dennoch: Woran misst man die Geschwindigkeit des Signalberges genau? Während Chiao (und mit ihm das Gros der Physiker) dies an der vordersten Front des Signals festmachen, plädiert Nimtz dafür, den Berg zu berücksichtigen. Lijun Wang selbst übt sich im Eiertanz: Messe man die Geschwindigkeit am Anfangspunkt des Signals, bleibe alles beim Alten. Ziehe man dagegen den Großteil des Berges heran, erhalte man Überlichtgeschwindigkeit. Gleichwohl versichert er: "Der beobachtete überlichtschnelle Lichtpuls steht nicht im Widerspruch zur Kausalität oder der speziellen Relativitätstheorie."

Dazu kommt: Der Versuch funktioniert nur unter speziellen Bedingungen mit genau definierter Signalform. Und der Empfang des kompletten Signals dauert über 6000 Nanosekunden, rund hundertmal länger als der mögliche Zeitgewinn. Die Nachrichtentechnik wird vorerst also nicht revolutioniert.

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