Null oder nicht Null?

Das ist die Frage, über die Mathematiker sich derzeit streiten

von Wolfgang Blum

Mathematiker gelten als vergeistigte Gestalten, die in streng logischen Gedankenwelten schweben, über jeden Streit erhaben. Doch wenn es ans Eingemachte geht, neigen auch sie zu heftigen Querelen. Seine Kollegen betrachteten ihr Fach als unbegrenzte Spielwiese, auf der sie sinnentleerte Formeln hin- und herschöben, schimpft etwa Rudolf Taschner: "Mehr als die Hälfte der überschäumenden Flut von Artikeln und Artikelchen ist das Papier nicht wert, das sie verschwenden." Einen Großteil mathematischer Forschung hält der Mathematikprofessor von der TU Wien schlicht für aufgeblasen: "Ich warte sehnsüchtig auf den Propheten, der die Kulissen niederreißt und enthüllt, dass nichts dahinter steckt." Der Wiener findet sichtlich Gefallen am Streit. Sein Fach ähnele seit Jahrzehnten der mittelalterlichen Scholastik: "Die Mathematiker sind in der Falle ihrer Dogmatik gefangen und empfinden diese als Evangelium." Was versetzt den seriös wirkenden 47-Jährigen so in Rage?

Die Mathematik gilt als die Wissenschaft vom Unendlichen. Mit diesem Begriff, bemängelt Taschner, gehe die Mehrzahl der Mathematiker völlig falsch um. Er erklärt das am Beispiel einer Verbrecherkartei: Gäbe es unendlich viele Karteikarten, könne man eben nicht einfach alle Konterfeis bis zum Ende durchsehen. Was dem Laien sofort einleuchtet, befremdet den Fachmann. Die meisten Mathematiker tun so, als ob ihnen alle Karten zur Verfügung stünden. Sie behandeln unendliche Mengen genauso wie endliche.

Taschners Kritik ist nicht neu. Bereits Anfang des Jahrhunderts schlug der holländische Mathematiker Luitzen Egbertus Jan Brouwer einen alternativen Zugang zum Unendlichen vor: die konstruktive Mathematik. In ihr existiert nur, was auch konstruiert werden kann. Deswegen lässt sie sich besser als die klassische Mathematik auf Computer übertragen. Ihre Anhänger hoffen, die 90 Jahre alte Idee führe zu besserer Software und erlebe dadurch eine Renaissance.

Die klassische Mathematik lässt indirekte Schlüsse nach dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten zu. Brouwer verwarf hingegen dieses tertium non datur, sobald Unendliches ins Spiel kommt. So ist etwa in der klassischen Mathematik eine Zahl entweder Null oder von Null verschieden. Ein Drittes gibt es nicht. Brouwer sah das anders und konstruierte eine Zahl, von der niemand sagen könne, ob sie Null sei oder nicht. Diese Brouwersche Zahl ist auf alle Fälle furchtbar klein. Um festzustellen, ob sie exakt mit Null übereinstimmt, müsste man unendlich viele Ziffern betrachten. Und das ist für uns endliche Wesen unmöglich. Mathematikern mag es als Skandal vorkommen, nicht entscheiden zu können, ob eine Zahl gleich Null ist oder nicht. Programmierer kennen das längst. Da Computer nur mit endlicher Genauigkeit rechnen, steht bei ihnen die Null auch für hinreichend kleine Zahlen.

Zur Definition seiner Zahl veränderte Brouwer die Nachkommastellen der Kreiszahl Pi: 1415926535... Da Pi eine irrationale Zahl ist, bricht die Ziffernfolge hinter dem Komma niemals ab. Aus ihr bastelte der Holländer seine verschwindend kleine Zahl: Vor dem Komma schrieb er eine 0. An der ersten Stelle dahinter sollte nur dann eine 7 stehen, wenn die erste Nachkommastelle von Pi gleich 7 wäre, sonst eine 0 - also 0,0... An der zweiten Nachkommastelle sollte eine 7 nur dann verzeichnet werden, wenn die zweite und die dritte Nachkommastelle von Pi beide 7 lauteten, sonst eine 0 - also 0,00... Auf die dritte Nachkommastelle sollte eine 7 kommen, wenn an der vierten, fünften und sechsten Nachkommastelle von Pi jeweils eine 7 stände, sonst eine 0 - folgt 0,000... Es ist klar, wie die Vorschrift weitergeht. Je größer der Abstand einer Ziffer in der Brouwerschen Zahl vom Komma, desto mehr Siebener müssen in Folge bei Pi auftreten, damit sie von Null verschieden ist. Mittlerweile haben Computer Pi auf viele Milliarden Stellen genau berechnet. Eine ausreichend lange Sequenz von Siebenern tauchte kein einziges Mal auf. Die Brouwersche Zahl beginnt daher mit sehr vielen Nullen hinter dem Komma. Doch ob sie wirklich gleich Null ist, wissen wir nicht und werden es wohl nie wissen. Denn es gibt unendlich viele Nachkommastellen von Pi, keiner wird sie alle jemals durchsehen können. Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass ganz weit hinten in der Brouwerschen Zahl doch noch eine Sieben erscheint. Manchem mag die Argumentation als Haarspalterei vorkommen. Doch brüsten sich Mathematiker gern damit, die exaktesten aller Wissenschaftler zu sein und ewige Wahrheiten zu produzieren. Da müssen sie schon genaues Hinsehen akzeptieren.

Computer nehmen die Null nicht so genau. Das hilft

Schon vor 90 Jahren schlugen im Streit um die richtige Mathematik die Wogen hoch. Brouwer lehnte die Ideen seiner Zeitgenossen kategorisch ab und verteidigte seinen Ansatz kompromisslos. "Er war ein sonderlicher Mensch, völlig in seine Philosophie vernarrt", urteilte sein holländischer Kollege Bartel van der Warden über ihn. Sein Hauptgegner, der damals weltweit führende deutsche Mathematiker David Hilbert, redete von einem Putsch. Würde man Brouwer folgen, sei das für seine Zunft so, als ob man Astronomen ihre Fernrohre oder Boxern ihre Handschuhe raubte. Hermann Weyl, der die mathematischen Grundlagen zu Einsteins Relativitätstheorie legte, gestand zwar ein, das Haus der Mathematik sei "zu einem wesentlichen Teil auf Sand gebaut". Dennoch wollte er sich nicht vollends der Brouwerschen Revolution, wie er es nannte, anschließen. Er fürchtete, mit dessen Methode nicht alle Ergebnisse herleiten zu können, die in der Physik angewandt wurden.

Diese Sorge hat sich in den vergangenen Jahren als unberechtigt erwiesen. Wissenschaftlern gelang es, mit konstruktiver Mathematik alles zu beweisen, was Physiker, Ingenieure und Ökonomen brauchen. "Selbst für die Quantenmechanik funktioniert es", sagt Peter Schuster von der Universität München. Nur Schwarze Löcher könne man mit konstruktiver Mathematik bislang nicht erfassen. Doch ob die überhaupt existierten, sei ja gar nicht erwiesen. Die konstruktiven Beweise seien zwar oft etwas komplizierter, dafür böten sie aber auch mehr Einsicht, meint Schuster. Denn sie lieferten eine Lösung und nicht nur den formalen Schluss, dass es eine solche geben müsse.

Von der Polemik Taschners halten Schuster und die meisten anderen Konstruktivisten wenig. Sie wollen vielmehr gerade weg vom Ideologiestreit. Wer sich mit konstruktiver Mathematik beschäftige, stehe sofort im Verdacht, wie Brouwer fanatisch alles umstürzen zu wollen, klagt etwa Douglas Bridges von der Universität im neuseeländischen Christchurch. Dabei hätte das heute kaum noch jemand im Sinn. "Ich sehe keinen Grund, warum man nicht gleichzeitig im einen Fachgebiet Mathematik klassisch, in einem anderen konstruktiv betreiben kann", sagt Bridges pragmatisch. In sich stimmig sind schließlich beide Ansätze. Und welcher die Wirklichkeit treffender beschreibt, ist eher eine Frage für die Philosophen.

Unter den Mathematikern jedenfalls kümmert sich kaum einer um solche Grundlagen seines Faches. Und nur wenige nehmen die kleine Minderheit der Konstruktivisten überhaupt wahr. Dennoch wittert diese Morgenluft. Nach dem Vorbild Hilberts, der im Jahr 1900 einen Katalog der wichtigsten mathematischen Probleme aufstellte, formulierte kürzlich der angesehene US-amerikanische Mathematiker Steve Smale 18 Aufgaben für das 21. Jahrhundert. Die meisten davon sind prädestiniert für konstruktive Methoden. Bis in das vergangene Jahrzehnt hinein wurde in der Mathematik viel Wert darauf gelegt, Theorien zu formalisieren und zu verallgemeinern. Nun steht wieder die Lösung von konkreten Aufgaben, häufig mit elektronischer Hilfe, im Vordergrund.

Computer, die ja nur endliche Zahlen mit endlich vielen Nachkommastellen kennen, sind Konstruktivisten par excellence. Rund um den Globus arbeiten Forschergruppen daran, konstruktive mathematische Beweise automatisch in Computerprogramme umzuwandeln. Erste Anwendungen erwarten sie bei Datenbanken, Chipdesign und führerlosem Bahnverkehr. Der Vorteil dieser Art, Software zu erstellen: Fehlersuche und Wartung, die heute beim Programmieren den Löwenanteil ausmachen, verringern sich enorm. Denn es lässt sich beweisen, dass die Software genau das tut, was sie soll. Bei herkömmlich geschriebenen Programmen ist ein solcher Nachweis prinzipiell nicht möglich.

Was Brouwer nicht schaffte und woran wohl auch Taschner mit seiner Polemik scheitern wird, könnte so die Softwarebranche nebenbei erledigen: die konstruktive Mathematik aus ihrem Mauerblümchen-Dasein befreien.

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