Newton in Japan

Werden die Ideen eines Denkers in einen vollkommen fremden Kulturkreis übertragen, so bleibt nicht aus, dass Übersetzer ihre eigene kulturelle Interpretation hinzufügen.

Letztlich aber scheint für die Lebendigkeit des Gedankenguts die Rezeptionsgeschichte eher bestimmend zu sein als eine pingelig genaue Übertragung der originalen Gedanken. In der jüngsten Ausgabe von "Nature" geht Scott L. Montgomery dem Schicksal der Newtonschen Begrifflichkeit im "Land der aufgehenden Sonne" nach:

Sind die Bedeutungen gleich?

Isaac Newton schrieb auf Latein und Englisch. Heutzutage findet man seine Werke und die von ihm verwendeten Begriffe übersetzt in jede bedeutende Sprache der Welt.

Doch bleibt die Frage, ob all die verschiedenen Versionen grundsätzlich gleich sind. Ist die Terminologie von "Kraft", "Geschwindigkeit" und "Beschleunigung" für alle praktischen Zwecke identisch - auch für Sprachen, die so unterschiedlich sind wie Englisch und Japanisch?

Newtonia: Das virtuelle Newton-Museum

Niederländisch-Gelehrter bringt Newton nach Japan

Die Geschichte von Newtons Einzug in Japan ist interessant. Verantwortlich für diese epochale Leistung war Shizuki Tadao, ein Rangaku-sha (Gelehrter des Niederländischen), der zwischen 1798 und 1802 ein dreibändiges Werk verfasste, dessen wesentlicher Kern die Newtonsche Physik und Astronomie war.

Umsturz der neo-konfuzianischen Naturphilosophie

Der Titel seines Werkes sagt alles: Rekishô Shinsho "Neues Traktat zur Astronomie". Damit deutete er eine Nähe zur traditionellen japanischen Astronomie an, die sich seit Jahrhunderten von der chinesischen neo-konfuzianischen Naturphilosophie inspirierte. Doch der Titel stellte auch so etwas wie ein Schutzschild dar, hinter dem revolutionäre Ideen standen, die dazu beitragen würden, die neo-konfuzianische Wissenschaft umzustoßen, obwohl das Werk einige Teile davon inkorporierte.

Keine westlichen Bücher in Japan

Shizuki entwarf dieses Werk an einem entscheidenden Punkt der japanischen Wissenschaftsgeschichte. Zwischen 1630 und 1720 durften keine westlichen Bücher ins Land kommen. Der Austausch mit Europa war auf den Handel mit den Niederlanden beschränkt, die sich bis ins 19. Jahrhundert als einzige Lieferanten alles Westlichen hielten.

Erst nach 1770 nahmen wissenschaftliche Bücher einen bedeutenden Platz in diesem Austausch ein, die die Rangaku-sha teilweise oder ganz übersetzten. Die Rangaku-sha standen im Staatsdienst.

Das Tokugawa Shogunat blieb gegenüber westlichen Texten misstrauisch. Insbesondere verurteilten sie jegliche Bezugnahme auf religiöse Themen oder das Wort "Gott" - was den Handel mit wissenschaftlichen Werken erleichterte.

Keimendes Interesse an westlicher Wissenschaft

1790, in der Zeit, da Shizuki aktiv war, waren einige Übersetzungen europäischer medizinischer und astronomischer Texte in Japan schon erschienen. Das weckte das Interesse japanischer Intellektueller an der europäischen Wissenschaft.

Dennoch wäre Shizuki schlecht beraten gewesen, hätte er den richtigen Titel seiner Hauptquelle verwendet: " Inledinge tot de Waare Natuuren Sterrekunde" - Einführung in die wahre Naturphilosophie und Astronomie. Es handelte sich hierbei um die holländische Übersetzung eines englischen populärwissenschaftlichen Buches von John Keill, einer der glühendsten Förderer Newtons.

John Keill

Heliozentrismus im Einklang mit Neo-Konfuzianismus

Doch was tat Shizuki mit dem Text? Als offizieller Übersetzer und Gelehrter der chinesischen Klassik hatte er das Bedürfnis, das heliozentrische Weltbild mit dem Neo-Konfuzianismus in Einklang zu bringen.

"In allen Dingen steckt ein regierendes Zentrum: bei einem Menschen ist es das Herz, in einem Haushalt der Vater, in einer Provinz die Regierung, für das ganze Land ist es der kaiserliche Hof, und für die gesamte Welt ist es die Sonne." Auf diese Weise konnte ein Kosmos, in dessen Mittelpunkt die Sonne stand, vertretbar gemacht werden.

Übersetzung der Begriffe Newtons

Was aber geschah mit seiner Übersetzung der Newtonschen Begrifflichkeiten? Hier erwies sich Shizuki als moderner Geist von großem Erfindungsreichtum. Für viele der Grundbegriffe - Kraft, Schwerkraft, Geschwindigkeit, Elastizität, Anziehungskraft - machte er sich ein simples System zunutze. Er verband das Ideogramm für die damit verwandte Aktion - Bewegung, Gewicht, Schnelligkeit, Ausdehnung, Zug - mit dem für Kraft oder Stärke ( chikara).

Kraft wurde also zu "Bewegungskraft" (die Kraft, etwas in Bewegung zu setzen); die Schwerkraft wurde zu "Gewichtskraft", Geschwindigkeit zu "Schnelligkeitskraft" und so fort.

Konkrete Sinnlichkeit

Jeder Begriff erhielt damit eine konkrete Sinnlichkeit, eine Verbindung zu einer alltäglichen Erfahrung, die im Lateinischen, Englischen oder Deutschen fehlt, und sprach in gewisser Weise für sich selbst.

Bis heute in Verwendung

Bei anderen Begriffen hielt sich Shizuki an den neo-konfuzianischen Einfluss: Vakkum wurde zu shinkû, "wahrer Leere", Korpuskel zu bunshi, " Kind-teil" (was im Begriff für Molekül überdauert hat); zentripetal und zentrifugal wurden zu kyûshin und enshin mit der Bedeutung "das Herz suchend" und "vom Herz weichend".

Alle diese Begriffe sind bis heute in Verwendung. Sie bilden einen Teil der grundlegenden Terminologie moderner Physik.

Die Newtonsche Sprache verdichtet also einen Moment, da die Loyalitäten zum alten China wie auch zum Westen in Bewegung geraten waren.

Wissenschaftler oder Übersetzer?

Während eines Großteils des 18. Jahrhunderts und bis weit ins 19. hinein war die Übersetzung die Hauptarbeit derjenigen Personen, die in Japan mit Wissenschaft beschäftigt waren. Man mag sie "Wissenschaftler" nennen, doch waren sie in erster Linie Übersetzer. Und genau deshalb war ihr Einfluss tiefgreifend.

Die Erfindung einer neuen Terminologie in der Wissenschaft ist keine geringe Leistung. In gewisser Weise verdient Shizuki einen Platz neben Lavoisier, Linné und Konsorten.

Newtons Ideen bleiben lebendig

Wie also wäre die Ausgangsfrage zu beantworten? Ist die Newtonsche Begrifflichkeit in allen Sprachen dieselbe? Vorliegendes Beispiel scheint anzudeuten, dass eine Reihe von "Newtons" sich über den Erdball verteilen: dass die Newtonsche Sprache zu einem wesentlichen Ausmaß an jeden linguistischen Kontext angepasst wurde - und nicht umgekehrt.

Wäre damit Newtons "Vaterschaft" an der modernen Physik in Frage gestellt? Nur wenn wir verlangen, ein solches Bild absolut zu setzen -, dass es die Arbeit all jener auslöschen solle, die das Newtonsche Gedankengut zu etwas Lebendigem in anderen Sprachen gemacht haben. Denn Newton selbst ist heute viel größer und vielgestaltiger als in der Vergangenheit.

Das japanische Beispiel zeigt, dass sein intellektuelles Erbe ebenso davon abhängt, was die Welt daraus gemacht hat, wie von dem ursprünglichen Inhalt seiner Ideen.

Nature

Kleiner Überblick über die Geschichte Japans