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Physiker entwickeln neue Theorien für kollektive Phänomene

"Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung grausam", suggeriert ein Werbespruch der Gesundheitsämter. Impfkampagnen schützen verläßlich vor einer Reihe tückischer Krankheiten. Denn durch das Prinzip der Massenimmunisierung sind nicht nur die geimpften Kinder geschützt, sondern indirekt auch die ungeimpften.

Dafür sorgt ein simples Prinzip: Ist der Großteil einer Bevölkerung immunisiert, so kommt ein Erkrankter hauptsächlich mit Geimpften in Kontakt und kann daher nur vereinzelt andere anstecken. Schon nach kurzer Zeit reißt dann die Infektionskette ab, und die Krankheit vermag sich nicht weiter auszubreiten.

Fraglich ist, wieviel Prozent der Bevölkerung geimpft sein müssen, damit es nicht zu Epidemien kommt. Um das und Ähnliches zu klären, trafen sich kürzlich Physiker an der Universität Gießen auf einem internationalen Kongress über die " Perkolationstheorie ". Diese soll angeben, wann wie viele Ereignisse ein Ergebnis hervorbringen, das sich aus den einzelnen Faktoren nicht prognostizieren lässt.

Solche Prozesse ähneln - salopp gesagt - dem Zerschneiden von Netzen: Angewandt etwa auf die Kinderlähmung steht jeder Knoten eines Netzes für einen Menschen. Ein Faden zwischen zwei Knoten bedeutet, die jeweiligen Personen haben Kontakt miteinander. Bei der Impfung werden nun alle Verbindungen zwischen Immunisierten innerhalb des Maschenwerkes durchtrennt. Die Impfung ist so lange effektiv, wie der Rest des Netzes in lauter kleine Stücke zerfällt. Bleibt ein großes zusammenhängendes Geflecht übrig, kann sich eine Epidemie durch die Population fressen.

Wie schnell sich eine Krankheit ausbreitet, hängt vom Design des Netzes ab: Ein schachbrettartiges Quadratgitter etwa zerfällt, wenn die Hälfte aller Fäden durchtrennt wird. Ein Dreiecksgeflecht, bei dem jeder Knoten mit sechs anderen verbunden ist, zerbröselt erst, wenn knapp zwei Drittel der Verknüpfungen durchgetrennt werden. Für das kubische Gitter, das die Kanten aufeinander geschichteter Würfel bilden, liegt der kritische Wert bei mehr als drei Vierteln.

Die Perkolationstheorie beschreibt auch den umgekehrten Prozess, die Knüpfung neuer Bindungen. Bei der Kunststoffproduktion etwa polymerisieren viele kleine Teilchen zu einem Riesenmolekül. Das gleiche geschieht im Ei, das beim Kochen hart, und der Marmelade, die beim Abkühlen fester wird. Wissenschaftler am Center for Polymer Studies der Boston University konnten sogar die historische Entwicklung von Großstädten wie Berlin, Paris und London nachvollziehen.

Armin Bunde von der Universität Gießen und seine Mitarbeiter lüfteten jetzt mit Hilfe der Perkolationstheorie auch das Geheimnis bestimmter Ionenleiter. Deren elektrische Leitfähigkeit nimmt ausgerechnet dann zu, wenn ihnen Isolatormaterial beigemischt wird. Denn an der Grenzschicht zwischen Isolator und Leiter bildet sich ein Netzwerk, auf dem sich die Ionen fortbewegen können.

Eine Variante solcher Netze ist das "Swiss Cheese"-Modell, bei dem kugelförmige Löcher in einen Würfel gestanzt werden. Damit versuchen englische und norwegische Konzerne die Ölförderung zu optimieren: Der "Schweizer Käse" im Modell entspricht dem Gestein, und ist das ausreichend durchlöchert, entstehen durchgehende Röhren, durch die das schwarze Gold problemlos fließt.