Kosmische Symphonie

Keiner wirbt schöner für die Weltformel als Brian Greene

von Ulrich Schnabel

Auf der Bühne ist Brian Greene in seinem Element. Beschwörend hebt er an, als gelte es, einen Hamlet-Monolog zu deklamieren. Mit eindringlicher Stimme umreißt er das jahrhundertealte Drama der Physik: die Suche nach der grundlegendsten aller Theorien, der "Weltformel". Von den alten Griechen bis Einstein sind daran noch alle Denker gescheitert. Doch Greene verheißt ein Happy End: "Zum ersten Mal haben wir die Chance, eine Theorie zu finden, die das gesamte Universum, vom kleinsten subatomaren Teilchen bis zum größten Galaxienhaufen, mit einer grundlegenden Idee beschreibt."

Der 37-jährige Professor für Physik und Mathematik ist der eloquenteste Vertreter der so genannten String-Theorie, an der weltweit über tausend Forscher arbeiten. Sie alle glauben, das Tor zum gelobten Land der Physik gefunden zu haben. Doch niemand vermittelt diese Überzeugung besser als Brian Greene. Statt typische Physikerklischees zu bedienen - ausgebeulte Cordhose, zerfurchte Denkerstirn, kompliziertes Vokabular - präsentiert der elegante Greene seinen Vortrag als gut verständliche Physik-Performance.

Mit flotten Videoanimationen und eingängigen Metaphern vermittelt der Theoretiker selbst den Managern des World Economic Forum in Davos das wohltuende Gefühl, die schwierigsten Sachverhalte der Physik wenigstens ansatzweise zu begreifen. Und dank seiner klaren Sprache avancierte Greenes Buch The Elegant Universe in den USA zu einem der größten Sachbucherfolge seit Stephen Hawkings Bestseller Eine kurze Geschichte der Zeit. Inzwischen steht Greenes Name auf der Vorschlagsliste für den Pulitzer-Preis. Nun erscheint das 500-Seiten-Werk auf deutsch (Das elegante Universum, Siedler Verlag), und Greene führt, passend zum "Jahr der Physik", auch den hiesigen Forschern vor, wie man Wissenschaft gekonnt unters Volk bringt.

Anders als Stephen Hawking verzichtet Greene allerdings völlig auf metaphysischen Beiklang. Während der gelähmte britische Astrophysiker raunte, "Gottes Plan" entziffern zu wollen, bekennt der String-Theoretiker bescheiden: "Gott ins Spiel zu bringen ist wohl eine gute Verkaufsmasche, aber wenn man ehrlich ist, hat die Physik nichts über Gott oder seine Existenz zu sagen."

Manche würden freilich einwenden, dass die String-Theorie selbst schon mystisch genug ist. Behauptet sie doch, die Bauelemente des Kosmos seien winzige Fädchen aus Energie, die wie Saiten (strings) unaufhörlich vibrieren. Aus deren Schwingungen, gleichsam ihren "Tönen", bestehen laut String-Theorie sowohl alle bekannten Elementarteilchen wie auch die physikalischen Kräfte. "Wie eine riesige Äolsharfe", schwärmt Greene, "bringen die strings das Universum zum Klingen."

Dieses poetische Bild hat nur einen Schönheitsfehler: Bislang beruht es auf purer Theorie, nichts davon ist experimentell bewiesen. Denn die strings sind so winzig, dass zu ihrem Nachweis ein Teilchenbeschleuniger von der Größe der Milchstraße nötig wäre. Kritikern gilt die String-Theorie daher als Paradebeispiel einer "ironischen Wissenschaft", deren Aussagen nie nachprüfbar sind. Der Physik-Nobelpreisträger Sheldon Glashow wetterte gar, den String-Forschern dürfe man nicht erlauben, "jungen Studenten den Kopf zu verdrehen". Die Theorie der vibrierenden Fädchen sei mit mittelalterlicher Theologie vergleichbar, und die Frage, wie die hypothetischen strings die Musik des Kosmos erzeugten, von ähnlicher Güte wie die nach der Zahl der Engel, die auf einer Nadelspitze Platz finden.

Solche Vorwürfe beantwortet Brian Greene sichtlich gelassen. "Ich habe mit Glashow gesprochen und gehofft, er würde all diese ätzenden Bemerkungen wiederholen, denn so etwas liest sich immer gut", grinst er jungenhaft. "Aber all seine harschen Urteile hat Glashow in den achtziger Jahren getroffen, und inzwischen hat es in der String-Theorie so bedeutende Fortschritte gegeben, dass selbst er sanfter geworden ist."

Zu diesem Sinneswandel hat möglicherweise die Tatsache beigetragen, dass die Physiker derzeit kaum eine Alternative zur String-Theorie sehen. Denn nach wie vor stehen die beiden großen physikalischen Gedankengebäude unverbunden nebeneinander: Albert Einsteins Relativitätstheorie beschreibt die großen Strukturen im Universum, Sterne, Galaxien oder schwarze Löcher; für Moleküle, Atome und Elementarteilchen dagegen gilt die Quantenmechanik. Beide Theorien stimmen in ihren Bereichen exakt mit Beobachtungen überein. Doch der Versuch, sie zu kombinieren, führt zu haarsträubenden Ergebnissen. Ergo können sie nicht völlig richtig sein. Da kommt die Vorstellung der schwingenden Saiten wie gerufen. Denn sie versöhnt zwanglos Quantenmechanik und Relativitätstheorie: Mit ihr lässt sich sowohl das Verhalten der Elementarteilchen erklären, als auch eine Beschreibung für die im Großen wirkende Gravitation formulieren - wenigstens im Prinzip.

Die mathematische Formulierung der Saitenidee ist freilich so kompliziert, dass die String-Theoretiker vielfach nicht einmal die exakte Form ihrer Gleichungen kennen, geschweige denn deren Lösungen. Die String-Theorie, so pflegt es ihr Guru Edward Witten auszudrücken, sei ein Teil der Physik der Zukunft, die durch Zufall in der Gegenwart gelandet ist." Längst haben die Fädchenforscher dabei das früher übliche Wechselspiel von Theorie und Experiment hinter sich gelassen und vertrauen allein der logischen Konsistenz ihrer mathematischen Gebilde. "Anstatt von einer Beobachtung auszugehen und zu verlangen, dass die Theorie sie beschreibt, verfolgen wir den umgekehrten Ansatz", beschreibt Greene dieses Prinzip Hoffnung. "Wir wollen reine Logik verwenden, daraus eine Theorie entwickeln und dann feststellen: Mein Gott, unsere Berechnungen stimmen ja mit der beobachtbaren Welt überein."

Mitunter führt dieses Vorgehen zu bizarren Konsequenzen. So funktioniert der mathematische String-Formalismus nur, wenn neben unseren bekannten drei Raumdimensionen noch weitere sieben Dimensionen existieren, in denen die Kosmos-Saiten schwingen können. Warum gerade sieben? "Das ist die Milliarden-Dollar-Frage", lacht Greene. "Wären es weniger Dimensionen, würde die Theorie logisch inkosistent."

Inzwischen hat Greene sogar ein eingängiges Bild für diese "wildeste Idee der String-Theorie" gefunden. Um sie zu verdeutlichen, hält er ein Stück Schnur zwischen zwei Fingern. "Von weitem betrachtet, sieht dies nach einem eindimensionalen Objekt aus: Eine Ameise scheint sich auf der Schnur nur von links nach rechts bewegen zu können." Erst bei näherer Betrachtung erkennt man eine weitere Dimension: Die Schnur hat auch eine Dicke, und der Ameise steht damit eine weitere Richtung offen.

Ähnlich, meint Greene, könnten in der realen Welt zusätzliche Raumdimensionen so "eingerollt" sein, dass sie bislang unserer Aufmerksamkeit entgingen. "Manche Leute glauben, dass diese Zusatzdimensionen so groß wie ein Millimeter sind - und versuchen, das experimentell zu überprüfen", beugt Greene dem Vorwurf der reinen Esoterik vor. Im Labor wird die Anziehungskraft zwischen Objekten gemessen, deren Abstand weniger als einen Millimeter beträgt. "Sollten die Zusatzdimensionen existieren, würde sich das bemerkbar machen." Selbstredend hielte er ein solches Ergebnis für "eine der größten wissenschaftlichen Entdeckungen aller Zeiten".

Dann schössen die Spekulationen wohl so richtig ins Kraut. Schon denkt Greene darüber nach, wie die String-Theorie die Natur von Raum und Zeit erklären könnte. Seine Analogie lautet: "Wenn man einen Teppich webt, knüpft man ihn aus einzelnen Fäden zusammen. Aber bevor der Teppich fertig ist, hat man nur einzelne Fäden. Vielleicht setzt sich ebenso das Gewebe des Raumes aus individuellen strings zusammen." Wie bitte, Professor Greene? "Keine Sorge, das versteht derzeit niemand so richtig", lacht Greene. "Das ist eher Intuition." Wie soll man sich auch eine Schwingung ohne Raum und Zeit vorstellen? "Dafür haben wir noch nicht einmal eine Sprache."

Da schwirrt nicht nur dem String-Theoretiker der Kopf. Auch der Laie wundert sich, wo solche Ideen hinführen. Winkt am Ende wirklich eine theory of everything, wie Fachleute die Weltformel unbescheiden nennen? "Man muss solche Ausdrücke richtig verstehen", beruhigt Greene. "Ich glaube zwar, dass die String-Theorie einmal in der Lage sein kann, die fundamentalen physikalischen Gesetze zu beschreiben. Das heißt aber nicht, dass die Theorie die Biologie des Lebens oder Bewusstsein erklären kann. Dafür brauchen wir nach wie vor alle anderen Disziplinen."

Trotz seiner theoretischen Höhenflüge verliert Brian Greene nicht die Bodenhaftung. Und trotz seines Glaubens an die Theorie hofft auch er, dass der geplante Teilchenbeschleuniger LHC am Cern in Genf wenigstens einige indirekte Voraussagen der eleganten Theorie bestätigen wird. Und wenn nicht? Befällt ihn mitunter das mulmige Gefühl, jahrelang nur einem schönen Traum nachzujagen? "Das geht uns allen so", bekennt Greene. "Aber in den vergangenen Jahren hatten viele von uns zunehmend das Gefühl, diese Theorie nicht mehr zu erfinden, sondern eher wie etwas bereits Vorhandenes zu entdecken."

Eines jedenfalls ist ihm schon gelungen: Mit seiner Vision von der Eleganz der Fädchen-Symphonie hat Brian Greene seiner Zunft die beste Werbung verschafft, die sich String-Theoretiker nur wünschen können.

© Die Zeit 7/2000