In weiter Ferne, so nah

Warum erscheint der Mond am Horizont größer? Ein Beitrag zu einer uralten Frage

von Christoph Drösser

Das Phänomen beschäftigte schon Aristoteles: Warum sieht die Mondscheibe in der Nähe des Horizonts so viel größer aus, als wenn sie hoch am Himmel steht? Manche Beobachter empfinden einen tief stehenden Mond gar als doppelt so groß und wollen gar nicht glauben, dass sein Abbild auf unserer Netzhaut immer gleich groß ist. Dabei ist das spätestens seit der Erfindung der Fotografie erwiesen. Ein eindrucksvoller Beweis ist auch der Blick durch eine Pappröhre auf den Horizontmond, der dadurch auf ein ganz normales Maß schrumpft.

Ganz offensichtlich spielt uns unser Wahrnehmungsapparat einen Streich. Eine beliebte Erklärung dafür lautet: Den Mond am Horizont vergleichen wir mit Bäumen oder Häusern, und dadurch erscheine er umso gewaltiger. Das erklärt aber nicht, wieso die Täuschung auch bei einem Mondaufgang über dem freien Meer funktioniert. Was passiert tatsächlich in unserem Kopf?

Der Psychologe Lloyd Kaufmann von der amerikanischen Long Island University und sein Sohn James, der für IBM als Physiker forscht, glauben, der Lösung des Rätsels nun einen Schritt näher gekommen zu sein (Proceedings of the National Academy of Sciences, Bd. 97, S. 500). Sie beschäftigten sich nicht nur mit der wahrgenommenen Größe des Erdtrabanten, sondern auch mit dessen scheinbarer Entfernung. Dabei unterschieden sie zwei Hypothesen. Theorie 1: Weil uns das Bild des Horizontmondes größer erscheint, denken wir, er sei näher als der Mond am Himmel. Theorie 2: Wir empfinden den Mond am Horizont als weiter entfernt und schließen aus dem entsprechenden Fleck auf der Netzhaut automatisch auf eine größere Kugel.

Befragt nach ihrem persönlichen Eindruck, ziehen die meisten Menschen Theorie 1 vor: Einen zwischen den Bäumen schwebenden Mond glauben wir fast anfassen zu können, der Mond am Himmel erscheint weit entrückt. Doch das ist nur eine subjektive Einschätzung. "Ich fragte mich, ob wir die scheinbare Entfernung nicht direkt messen könnten, anstatt sie nur abzuleiten", sagt Sohn Kaufman, der Physiker. Gesagt, getan. Die Kaufmans setzten ihre Versuchspersonen auf einen Hügel im Universitätscampus und projizierten mithilfe eines Laptop-Computers und eines halb durchlässigen Spiegels ein stereoskopisches Bild von zwei künstlichen Monden in den natürlichen Abendhimmel. Ein Kunstmond schwebte in unendlicher Entfernung am Horizont oder am freien Himmel, der andere konnte durch Veränderung der so genannten binokularen Disparität (die den Unterschied der beiden Abbilder im linken und rechten Auge misst) optisch nach vorn oder hinten verschoben werden. Die Versuchspersonen sollten nun den variablen Mond so einstellen, dass er ihnen halb so weit entfernt erschien wie der feste. Das frappierende Resultat: Diese Entfernung war beim künstlichen Horizontmond etwa viermal so groß wie beim Mond im Zenit - ein Beweis dafür, dass dem Gehirn der Trabant am Horizont tatsächlich weiter entfernt erscheint.

Offenbar klafft ein Widerspruch zwischen der Wahrnehmung des Gehirns (Horizontmond ist weiter entfernt) und unserem bewussten Empfinden (Horizontmond ist zum Greifen nah) - für Lloyd Kaufman das "Schlüsselelement einer wahren Illusion", die letztlich zur Täuschung führt. Wieso aber "denkt" unser Hirn, ein tief stehender Mond sei so viel weiter weg? Die zwischen Betrachter und Objekt liegende Erdoberfläche sorge für einen größeren Entfernungseindruck als der leere Himmel beim Blick nach oben, sagen die Kaufmans. Doch so richtig erklärt haben die beiden Mondforscher die Illusion damit noch nicht - sie haben letztlich eine Frage durch die nächste ersetzt.

© Die Zeit