Geometrisch eingekreist

Forscher sind dem Zufall auf die Schliche gekommen

von Wolfgang Blum

Zufälle verwirren. Wenn wir einen alten Schulkameraden nach Jahren unvermittelt im Ausland treffen oder im Spielkasino fünfmal hintereinander die Null kommt, denken wir sofort, das kann nicht mit rechten Dingen zugehen - und sind dabei in bester Gesellschaft. Goethe etwa philosophierte über "Wechselkreise von guten und schlechten Tagen", Freud glaubte, mit Perioden von 23 und 27 Tagen bedeutsame Ereignisse erklären zu können, und C. G. Jung schrieb Abhandlungen über "die Synchronizität akausaler Zusammenhänge", eine davon gemeinsam mit dem Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli.

Selbst Mathematiker haben mit dem Zufall ihre Probleme. Seit Jahrhunderten brüten sie über einer Definition des Begriffes. Doch immer wieder entzog sich das Forschungsobjekt den Erklärungen. Was dem Laien als Kinderspiel erscheint - eine zufällige Zahlenreihe zu erstellen -, bringt Wissenschaftler in Schwierigkeiten. Nun ist die Zunft dem Geheimnis des schwer fassbaren Gesellen ein Stück näher gekommen. Drei Mathematiker aus Holland und Kanada konnten den Zufall geometrisch einkreisen: Überträgt man eine Zahlenreihe als Punkte in ein Quadrat, lässt sich feststellen, ob die Reihe zufällig entstanden ist oder ob die einzelnen Zahlen nach bestimmten Regeln gewählt wurden.

Solche Zufallsreihen sind nicht bloß theoretisches Spielzeug, sondern ein gesuchter Rohstoff. Er eignet sich für eine ganze Reihe von Anwendungen: Meteorologen nutzen den Zufall, um Vorhersagen zu verbessern. Er ist ein Faktor bei der Steuerung von Robotern und hilft beim Ausrechnen der durchschnittlichen Lebensdauer einer Glühbirne. Mit Zufallsreihen prognostizieren Verkehrsplaner Autobahnstaus und suchen Ölkonzerne nach neuen Vorkommen.

Als vor 350 Jahren reiche Adlige Forschungsaufträge vergaben, handelte es sich noch weitgehend um ein persönliches Steckenpferd. Sie ließen die Gesetze des Zufalls ergründen, um ihre Chancen beim Glücksspiel zu verbessern. Schon damals erkannten die Gelehrten, dass Münzen, Würfel, Spielkarten und Roulettekugeln kein Gedächtnis haben. Auch wenn bei den letzten zehn Würfen "Kopf" gefallen ist, beträgt die Wahrscheinlichkeit für "Kopf" beim nächsten Wurf wieder genau 50 Prozent - sofern die Münze nicht manipuliert war. Dennoch setzen noch heute viele Spieler auf die ausgleichende Gerechtigkeit und meinen, nach zehnmal "Kopf" müsse doch endlich mal "Zahl" fallen.

Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften rückte der Zufall immer mehr ins Interesse der universitären Forschung. Kaum ein Experiment ist frei von zufälligen Störungen. Messungen etwa stimmen nie exakt, sondern schwanken um den wahren Wert. Als die Physiker auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, in die Quantentheorie vorstießen, begegneten sie auch da dem Zufall: Elementarteilchen lassen sich nicht festnageln, sie treten nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auf. Mathematiker entwickelten ihrerseits eine Theorie, mit der sie die zu erwartenden Abweichungen bei Versuchen kalkulieren konnten, und lernten, die Quantenwelt mit Formeln zu beschreiben. Die zentrale Frage, was der Zufall sei, blieb indes offen.

Die Forscher brachte dasselbe Phänomen zur Verzweiflung wie Glücksspieler, die nach zehnmal "Kopf" auf Fortunas Ausgleich warten. Jedes Ergebnis von zehn Würfen ist gleich wahrscheinlich. Notiert man für "Zahl" eine 1 und für "Kopf" eine 0, heißt das, die Zahlenfolge 1111111111 ist genauso wahrscheinlich wie die zufällig aussehende Reihe 0010101101. Betrachtet man stattdessen 10 000 oder gar Millionen Würfe, ändert sich nichts. Jeder Ausgang hat die gleiche Wahrscheinlichkeit, 1111 ... genauso wie jede andere 0-1-Sequenz. Zwar lässt sich mathematisch beweisen, dass bei unendlich vielen Würfen je die Hälfte "Wappen" und "Zahl" ergeben. Doch wann sich das ausbalanciert, ist nicht zu ermitteln.

Was soll man daher unter einer Folge von Zufallszahlen verstehen? Der österreichische Mathematiker Richard von Mises versuchte es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit fehlender Vorhersehbarkeit: Eine 0-1-Sequenz sollte als zufällig gelten, wenn es keine Regel gibt, die an irgendeiner Stelle das nächste Glied aus den vorhergehenden mit einer Wahrscheinlichkeit größer als 50 Prozent prognostiziert. Für den Münzwurf bedeutet das: Systeme, die dem Spieler einen Vorteil versprechen, existieren nicht. So einleuchtend die Definition klingt, hat sie doch einen Haken. Von Mises konnte mathematisch nicht präzisieren, was er unter einer Regel verstand. Sein Ansatz blieb Stückwerk.

Erst in den sechziger Jahren fanden der Russe Andrej Nikolajewitsch Kolmogorow und der Amerikaner Gregory Chaitin unabhängig voneinander mit einer speziellen Komplexitätstheorie einen Ausweg: Eine Zahlenfolge ist ihner Meinung nach zufällig, wenn sie sich nicht mit einer kürzeren Zeichensequenz beschreiben lässt. Die Folge 11111 ... etwa kann man knapp ausdrücken mithilfe des mit Nullen und Einsen geschriebenen Computerbefehls für "Schreibe lauter Einsen!", 01010101 ... mit einem entsprechenden "wiederhole 01!". Bei Zufallsfolgen darf es keine solche Umschreibung in Kurzform geben. Theoretiker mag diese Definition zufrieden stellen, doch taugt sie nur dazu, Folgen als nicht zufällig zu erkennen. Woher soll man wissen, ob sich eine Zahlenfolge nicht auf irgendeine Art knapper darstellen lässt? In der Tat erwies sich das nicht nur als schwierig, sondern sogar als unmöglich. Mathematiker bewiesen, dass es kein Verfahren gibt, mit dem sich die kürzeste Beschreibung einer Zahlenfolge ermitteln lässt.

Doch nun gelang es, diese sperrige Komplexitätstheorie besser in den Griff zu bekommen. Paul Vitanyi vom holländischen Zentrum für Mathematik und Informatik in Amsterdam sowie Ming Li und Tao Jiang von den kanadischen Universitäten in Waterloo und Hamilton kramten dazu ein über 50 Jahre altes geometrisches Problem hervor: Auf einem Quadrat ist eine Anzahl von Punkten zu setzen, die paarweise mit geraden Strichen verbunden werden. Zwischen diesen Verbindungslinien bilden sich Dreiecke. Nun stellt sich die Frage, wie man die Punkte platziert, damit das kleinste dieser Dreiecke so groß wie möglich wird. Ist das kleinste Dreieck nämlich fast so groß wie das größte, hat man eine gleichmäßige Lösung gefunden. Für fünf Punkte zeigt die unten stehende linke Abbildung die Lösung.

Sucht man nun nach dem Zufall, kann das Ziel nicht in der optimalen Anordnung der Dreiecksecken liegen. Um einen zufälligen Zustand mit einer einigermaßen gleichmäßigen aber nicht zu gleichmäßigen Verteilung zu erhalten, streuen Vitanyi, Li und Jiang zufällig Punkte über das Quadrat (rechte Abbildung) und bestimmen die Größe des kleinsten Dreiecks zwischen ihnen. Je mehr Punkte man einzeichnet, desto kleiner werden die Werte natürlich. Bei Zufallsfolgen schrumpfen die Flächen der kleinsten Dreiecke immer in einem bestimmten Verhältnis zur wachsenden Anzahl Punkte. Verringern sich die Flächen aber schneller, liegen irgendwo Punkte zu dicht beieinander, um zufällig zu sein. Reduzieren sich die Dreiecksflächen dagegen zu langsam, sind die vermeintlichen Zufallspunkte zu gleichmäßig über das Quadrat verstreut. In beiden Fällen überführt die Methode eine angebliche Zufallsreihe. Zum Beweis beschrieben die drei Mathematiker die Lage der zugehörigen Punkte in jeweils kürzerer Form - nach der Komplexitätstheorie von Kolmogorow und Chaitin konnten also die Zahlenreihen nicht zufällig gewesen sein.

Damit ist die unhandliche Komplexitätstheorie in eine geometrische Aufgabe umgesetzt worden, die der Computer bewältigen kann. Er berechnet die Dreiecksflächen auch für Tausende von Punkten problemlos. Vitanyi, Li und Jiang wollen mit diesem Ansatz Simulationen verlässlicher machen. Computer spucken auf Knopfdruck ellenlange Listen von so genannten Pseudozufallszahlen aus, die zwar zufällig verteilt aussehen, in Wirklichkeit aber einem bestimmten Muster folgen. Nach der Komplexitätsdefinition sind sie somit himmelweit von Zufälligkeit entfernt.

Die Meteorologen etwa sagen das Wetter von morgen mithilfe solcher Pseudozufallszahlen vorher, und Börsenanalysten versuchen, mit ihnen künftige Aktienkurse zu schätzen. Da Klima und Markt äußerst komplex sind, rechnen die Experten mit den Pseudozufallszahlen eine ganze Anzahl möglicher Entwicklungen durch. Als Prognose berechnen sie daraus den Durchschnitt, in der Absicht, auf diesem Weg in die Nähe des Zufalls zu gelangen. Zuweilen liegen sie damit weit daneben, weil die verwendeten Zahlenfolgen eben nicht zufällig sind, sondern Muster aufweisen. Allzu große Fehler könnte künftig der Vergleich der Folgen mit echten Zufallszahlen, die den Test von Vitanyi, Li und Jiang überstanden haben, vermeiden.

Doch selbst nüchterne Forscher wie Vitanyi verwirrt der Zufall zuweilen noch. Der holländische Mathematiker erzählt, er habe gerade bei einem zweitägigen Aufenthalt in Japan seinen Freund aus Tokyo zufällig in der U-Bahn getroffen. "Unter 15 Millionen Menschen ist das wirklich erstaunlich."

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