Galaktischer Kannibalismus

Schon seit etlichen Jahren vermuten Astronomen, dass sich unsere Galaxie in der Vergangenheit wiederholt kleinere Sternensysteme einverleibt hat. Forscher der Sternwarte Leiden und ein Team um Simon White vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching haben jetzt Überreste einer Zwerggalaxie gefunden, die offenbar von der Milchstraße geschluckt wurde.

Ausgelöst wurde die Suche nach derartigen Zeugen eines "galaktischen Kannibalismus" durch entsprechende Computersimulationen galaktischer Zusammenstöße am Max-Planck-Institut. Sie hatten ergeben, dass die Sterne einer von außen eindringenden Zwerggalaxie zumeist auf parallele Bahnen um das Zentrum unserer Milchstraße gelenkt werden und daher noch lange an ihrer besonderen Bewegung erkennbar bleiben sollten. Allerdings erfordert eine Messung von Sternbewegungen sehr präzise Daten, wie sie teilweise erst vor einigen Jahren mit dem europäischen Astrometriesatelliten Hipparcos gewonnen werden konnten.

Die Leidener Astronomen konzentrierten sich bei ihrer Arbeit auf so genannte Rote Riesen , die wegen ihrer großen Helligkeit über Entfernungen von vielen tausend Lichtjahren beobachtet werden können. Die meisten der einigen hundert Roten Riesen nehmen ziemlich ungeordnet an der allgemeinen Rotation unserer Milchstraße teil. Die Forscher entdeckten aber zwei kleine Gruppen von neun beziehungsweise drei Sternen, die sich mit großen Geschwindigkeiten auf jeweils nahezu parallelen Bahnen senkrecht dazu bewegen. Das ist ein Indiz dafür, dass es sich um Überreste einer Zwerggalaxie handelt, die vor rund zehn Milliarden Jahren von der, damals noch sehr jungen, Milchstraße geschluckt wurde.

Auch koreanische Astronomen fanden Hinweise auf die kannibalistischen Neigungen unserer Galaxie: Young-Wook Lee und Kollegen von der Yonsei University in Seoul entdeckten eine bislang übersehene Besonderheit des kugelförmigen Sternhaufens Omega Centauri , der am Südhimmel auch mit bloßem Auge zu erkennen ist. Solche kugelförmigen Sternhaufen gelten als die ältesten Bestandteile unserer Milchstraße; sie enthalten jeweils einige hunderttausend bis hin zu einer Million Sterne, die nach bisheriger Vorstellung etwa zeitgleich entstanden sind. In Omega Centauri fanden die koreanischen Astronomen dagegen mindestens zwei verschiedene Sterngruppen, deren Alter sich um rund zwei Milliarden Jahre unterscheidet. Dies könnte darauf hinweisen, dass der kugelförmige Sternhaufen zunächst einer kleineren Galaxie angehörte und später, beim Einfang durch unsere Milchstraße, noch einmal eine heftige Phase neuer Sternentstehung durchlebte.

Beide Beobachtungen stützen die Hypothese der Astronomen, dass sich die heute beobachtbaren großen Galaxien durch Zusammenlagerung aus kleineren Sternsystemen gebildet haben.