Elektronen im Schrebergarten

Elementarteilchenphysiker planen einen superlangen Beschleuniger. Drei Nationen wollen ihn haben

von Max Rauner

Ute Nass fühlt sich "wie ein Sektkorken auf der Flasche". Auf der Wiese hinter ihrem Gartenzaun soll in zehn Jahren ein Beschleunigertunnel des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (Desy) enden. Ihr Haus sei nicht gefährdet, haben die Physiker vom Desy versprochen. Nur auf dem Nachbargrundstück im holsteinischen Westerhorn würde ein Schacht aus 25 Meter Tiefe emporsteigen. Ute Nass hat gegen den Forschungstunnel an sich gar nichts einzuwenden, aber "möchte einfach definitiv wissen, wann etwas passiert". Das jedoch wissen selbst die Physiker am Desy in Hamburg nicht genau. Denn der 33 Kilometer lange unterirdische Tunnel von Hamburg nach Westerhorn im Landkreis Pinneberg ist erst in der "Vorplanungsphase", und noch ist ungewiss, ob die Bundesregierung dem Großforschungsprojekt ihren Segen geben wird.

In dem Tunnel soll der neue Teilchenbeschleuniger Tesla (Tera-Elektronenvolt Energy Superconducting Linear Accelerator) gebaut werden. Mit ihm wollen die Wissenschaftler unter anderem das geheimnisvolle Higgs-Boson nachweisen, das laut Theorie allen anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht. "Bisher haben wir kleinere Gipfel erklommen", sagt Desy-Chef Albrecht Wagner, "jetzt wollen wir den Mount Everest besteigen - das Higgs-Boson ist der zentrale Baustein, der uns im Theoriengebäude der Physik noch fehlt." Zwar steht das begehrte Teilchen auch auf dem Arbeitsprogramm des Ringbeschleunigers LHC in Genf, der voraussichtlich im Jahr 2005 in Betrieb geht. Doch der LHC erschließe nur einen Teilbereich in der Untersuchung kleinster Strukturen. Daher steht ein energiereicher linearer Beschleuniger auf dem Wunschzettel vieler Teilchenphysiker - nicht nur in Deutschland.

Auch die USA und Japan konkurrieren um das Großgerät. "Es wird auf der Welt nur einen Linearbeschleuniger der nächsten Generation geben", sagt Nobelpreisträger Burton Richter, der 15 Jahre lang das Stanford Linear Accelerator Center (Slac) leitete, "und ich hoffe natürlich, dass er in die Vereinigten Staaten kommt."

Würde der Tesla-Tunnel in Deutschland gebaut, führte er von Hamburg aus durch 15 Gemeinden Schleswig-Holsteins bis zum Gartenzaun von Ute Nass. Bis Anfang 2001 wollen die Planer einen Entwurf fertig stellen und dem Wissenschaftsrat nebst Kostenvoranschlag zur Begutachtung vorlegen. Tesla dürfte mehrere Milliarden Mark kosten, und selbst wenn sich andere Nationen wie geplant zur Hälfte beteiligen, ist dieser Preis hoch. Vielleicht zu hoch? "Alles können wir nicht finanzieren", sagt Wolf-Michael Catenhusen, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Den Physikern prophezeit er einen zunehmenden Konkurrenzkampf um Forschungsmittel. Nicht nur, dass man ihre Wünsche mit jenen von Genforschern oder Informatikern "ausbalancieren" müsse, auch innerhalb der Physik konkurrieren mehrere Großprojekte ums Geld: der Internationale Fusionsreaktor ITER, die Europäische Neutronenquelle ESS und der Linearbeschleuniger Tesla. Da komme es auch darauf an, meint Catenhusen, wie die Forscher die Relevanz ihrer Projekte der Politik und Öffentlichkeit erklären. "In Zukunft läuft das Spiel jedenfalls nicht mehr nach dem Motto: Wir wissen, wie gut wir sind, und das Ministerium besorgt schon das Geld."

Wie es um die Diskussionskultur der community steht, zeigte unlängst eine Polemik des Teilchenphysikers Hans Graßmann, die der Spiegel unter der Überschrift Sperrt das Desy zu abdruckte. Das Hamburger Großforschungslabor verschlinge jedes Jahr 250 Millionen Mark und liefere "nur irrelevante und langweilige Ergebnisse", hieß es darin, und "ob das Proton bei einer bestimmten Energie 200 oder 205 Gluonen enthält, das ist nicht mehr wert als drei oder vier Doktorarbeiten". Starker Tobak aus den eigenen Reihen - das sind Naturwissenschaftler nicht gewohnt. "Die Vorwürfe sind nachweislich falsch", kontert Desy-Chef Albrecht Wagner. Die Relevanz wissenschaftlicher Arbeit lasse sich objektiv bewerten, nämlich danach, wie oft sie von anderen zitiert werde: "Auf einer Bestsellerliste der meistzitierten Beschleunigerexperimente der letzten zwei Jahre belegen die Ergebnisse unseres Speicherrings Hera die Plätze eins bis vier und sechs."

Bis abends um elf inspizierten Landwirte den Beschleuniger

Selbst die Konkurrenz aus Stanford, wo man die Diskussion aufmerksam verfolgt, lässt auf die Leistungen des Hamburger Labors nichts kommen. "Ich halte von Graßmanns Vorwürfen gar nichts", sagt Burton Richter. "Desy ist eines der wichtigsten Forschungsinstitute in unserem Fachgebiet." Doch als der Spiegel die Kontrahenten zu einer Podiumsdiskussion lud, machte auch das Desy keine gute Figur. Die Wissenschaftler drohten der Veranstaltung fernzubleiben, sollte Graßmann mit auf dem Podium sitzen. Also diskutierte man ohne den Kritiker.

Dabei haben die Forscher bei der Vorplanung des Tesla-Beschleunigers durchaus Feingefühl bewiesen. In einer Reihe von Anhörungen und Informationsveranstaltungen standen Desy-Mitarbeiter den Anwohnern der Trasse Rede und Antwort. Am Tag der offenen Tür, den das Desy für die betroffenen Gemeinden veranstaltete, kamen 3500 Menschen. "Das waren zum Teil Landwirte, die morgens noch auf dem Trecker saßen", erinnert sich Desy-Sprecherin Petra Folkerts. "Einige sind bis abends um elf durch die Beschleunigeranlage spaziert." Keine Spur von Technologiefeindlichkeit.

Als öffentlich geförderte Stiftung betreibt das Deutsche Elektronen-Synchrotron in Hamburg seit 40 Jahren Teilchenbeschleuniger. 20 Meter unter dem Stadtteil Bahrenfeld beschleunigen die Forscher negativ geladene Elementarteilchen - Elektronen - und deren positiv geladenen Antiteilchen - Positronen - fast auf Lichtgeschwindigkeit. Sodann werden die Teilchenstrahlen frontal gegeneinander gelenkt. Beim Zusammenprall entstehen Temperaturen von mehreren tausend Milliarden Grad, die einen Einblick in die Entstehung des Universums und den Ursprung der Materie gewähren. So fanden Desy-Forscher mithilfe des Speicherrings Petra vor 20 Jahren das Gluon, ein flüchtiges Teilchen, das die Protonen und Neutronen im Atomkern zusammenhält. Nebenbei erzeugen die kreisenden Elektronen starke Röntgenstrahlung - Synchrotronstrahlung genannt -, mit denen Biologen, Geologen und Physiker Kristalle und Materialproben untersuchen.

Auf Petra folgte 1990 Hera, ein sechs Kilometer langer Speicherring, in dem Elektronen auf Protonen geschossen werden. Mit Hera versuchten Desy-Forscher die innere Struktur des Protons zu analysieren. Doch je weiter sie in das Innere der Materie eindringen wollen, umso stärker müssen sie die Teilchen im Speicherring beschleunigen. Inzwischen stoßen die Physiker an die Grenzen der Ringbeschleuniger. Die Abstrahlung des Röntgenlichts wirkt nämlich auf die umlaufenden Elektronen wie eine angezogene Handbremse. Nur in einer geraden Röhre könnte man dies umgehen und Elektronen auf noch höhere Geschwindigkeiten beschleunigen.

In Japan und am Slac in Stanford setzt man auf die herkömmliche Beschleunigertechnik, die bei Zimmertemperatur funktioniert. Bei Tesla hingegen sollen neuartige Bauteile zum Einsatz kommen, die auf minus 270 Grad Celsius abgekühlt werden. Eine Technik, von der man sich am Desy bessere Experimente und zudem Nutzen für die Biowissenschaften erhofft. Der Amerikaner Burton Richter dagegen hält sie für noch nicht ausgereift und steckt schon künftige Konfliktlinien ab. Er habe den Eindruck, "dass die Deutschen einen Linearbeschleuniger nur dann bezuschussen, wenn er auch in Deutschland gebaut wird". Mit den Japanern lasse sich viel besser zusammenarbeiten. Im Bundesforschungsministerium gibt man sich da zurückhaltender: "Tesla muss sich im internationalen Wettbewerb bewähren", meint Staatssekretär Catenhusen nur.

In Ellerhoop dagegen haben die Desy-Forscher schon Rückendeckung. Dort sollen - auf halber Strecke des Tesla-Tunnels - die aus Richtung Westerhorn kommenden Positronen auf die beschleunigten Elektronen aus Hamburg krachen und deren Bruchstücke in einer riesigen Detektorhalle analysiert werden.

Heute ist Ellerhoop ein ruhiges, kleines Dorf im Grünen, mit einer Grundschule und ohne Supermarkt. Die Telefonnummern in Ellerhoop sind dreistellig, und die CDU liegt mit der freien Wählervereinigung gleichauf bei knapp 38 Prozent. "Der Gemeinderat steht dem Projekt grundsätzlich positiv gegenüber, parteiübergreifend", sagt Bürgermeister Klaus Göttsche von der freien Wählervereinigung. In den Ausschüssen haben Desy-Wissenschaftler über die Ziele und Aufgaben von Tesla berichtet. Industriekaufmann Göttsche lässt sich außerdem viele Details von seinem Sohn erklären - der ist Physiklehrer.

Aber bei aller Begeisterung: Ellerhoop dürfe nicht zu sehr darunter leiden, dass drei Jahre lang die Schwertransporter durch die Straßen rollen: "Wenn die Braut ins Dorf kommt, muss sie auch ein Brautgeschenk mitbringen." Göttsche könnte sich vorstellen, dass der Bund zum Beispiel den Ausbau des Kindergartens bezuschusst, die Feuerwehr unterstützt und bei der Erweiterung der Trinkwasserversorgung hilft.

Die Entscheidung für oder gegen Tesla wird für das Jahr 2003 erwartet. Dass die Physiker sich in den internationalen Projektgruppen schon vorher auf einen Standort einigen, ist unwahrscheinlich. Das Tesla-Konzept, wenn die tiefgekühlte Beschleunigertechnik denn funktioniert, hat gegenüber den Vorschlägen aus Japan und den USA den Vorteil, dass es auch für die Nachbardisziplinen interessant ist: Kurz vor Ellerhoop, so die Planung, wird ein Teil der schnellen Elektronen in eine zweite Röhre abgezweigt und mit Magneten auf wellenförmige Bahnen gezwungen. Auf diese Weise wollen die Wissenschaftler einen Röntgenlaser bauen, der äußerst intensives Röntgenlicht in kurzen Pulsen abstrahlt und mit dem sich chemische und biologische Vorgänge wie in Zeitlupe untersuchen lassen. Eine solche Maschine wird auch bei den life sciences Punkte sammeln. Ende Februar gelang es einer Arbeitsgruppe am Desy, eine Vorversion dieses "Freie-Elektronen-Lasers" in Betrieb zu nehmen. Die Öffentlichkeit schließlich soll im Rahmen der Expo Gelegenheit bekommen, die Baustelle für eine Tesla-Pilotanlage zu begehen.

Wenn der Expo-Rummel vorbei ist, bleibt vielleicht auch Zeit, das Tesla-Projekt einem breiten Publikum allgemein verständlich auf der Desy-Website vorzustellen. Damit die Faszination für das Higgs-Boson nicht zwischen Hamburg und Westerhorn auf der Strecke bleibt.

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