Irgendwie Dunkel

Kosmologen sehen schwarz: Neben der dunklen Materie treibt nun auch noch eine "dunkle Energie" im All ihr Unwesen. Das physikalische Weltbild muss dringend überarbeitet werden. Nur wie?

Von Ulrich Schnabel

Eine krakelige Zeichnung reicht dem Astrophysiker Michael Turner, um den Kenntnisstand seiner Zunft zusammenzufassen. "Dieses Modell des Universums", ruft er seinen Kollegen zu, "ist vermutlich ebenso wahr wie alle anderen, die hier vorgestellt werden!" Das Dia im Konferenzsaal zeigt ein wildes Kritzelbild von Turners achtjährigem Sprössling. Das Auditorium nimmt es mit Gelächter auf - und niemand widerspricht. Denn nach einer Serie spektakulärer und rätselhafter Befunde ist das kosmologische Weltbild in eine dramatische Krise geraten. Die Fachleute wissen nun: Über den größten Teil des Alls wissen sie so gut wie nichts. Das Schicksal unseres Universums wird von unbekannten Formen von Materie und Energie bestimmt.

Als sich die Astronomen vergangene Woche bei der Konferenz The Dark Universe im amerikanischen Baltimore zur Beratung traf, wurde das ganze Ausmaß ihrer Ratlosigkeit sichtbar. Gerade erst haben sie sich an den Gedanken gewöhnt, dass große Mengen "dunkler Materie" unsichtbar im All lauern. Doch nun stehen sie dem nächsten Rätsel gegenüber: Dunkle Energie, so zeigen neueste Beobachtungen, macht offenbar den größten Teil des Universums aus. Das Weltbild muss dringend erweitert werden. Fragt sich nur: wie?

Die Verunsicherung ist so groß, dass selbst grundlegende Überzeugungen auf den Prüfstand kommen. "Wessen sind wir uns wirklich sicher?", fragte zweifelnd der Gastgeber Mario Livio vom Hubble Space Telescope Science Institute in Baltimore und gab sich und seinen Kollegen die Antwort: "Sicher sind nur Tod und Steuern - obwohl manche hier im Saal auch das bestreiten würden." In der Tat gibt es kaum einen Aspekt des kosmologischen Modells, der nicht noch einmal überdacht würde. Selbst Spekulationen darüber, ob sich im Laufe der Zeit Naturkonstanten wie die Lichtgeschwindigkeit verändern könnten (im Gegensatz zu allen Lehrbuchmeinungen), sind plötzlich statthaft.

Einig sind sich die Forscher derzeit nur über die Urknalltheorie, die Vorstellung, dass unser Universum einst mit einem gewaltigen Big Bang begann und seither wie eine Art Hefekuchen ständig expandiert. Allzu viele Indizien belegen dies: So entdeckte der Astronom Edwin Hubble 1929, dass die Galaxien - wie Rosinen im Hefeteig - stetig auseinander streben; auch die Vermessung der so genannten Hintergrundstrahlung lässt sich perfekt als Nachhall des Urknalls deuten. Vor rund 15 Milliarden Jahren, so erzählt die wissenschaftliche Schöpfungsgeschichte, nahm der Kosmos in einem Zustand unendlicher Dichte und Temperatur seinen Ausgang und dehnt sich seither permanent aus. Doch beim Versuch, die Historie bis zum heutigen Tag fortzuspinnen, stoßen die Forscher auf Widrigkeiten. So nahmen sie bisher an, die Schwerkraft von rund 100 Milliarden Galaxien müsste den Schwung des Urknalls irgendwann abbremsen. Doch Beobachtungen zeigen, dass die Expansion des Alls mitnichten langsamer wird, sondern seit einigen Milliarden Jahren sogar kräftig zunimmt - ganz so, als ob plötzlich eine mysteriöse Kraft die Galaxien beschleunige.

Mehrere Astronomenteams haben in den vergangenen Jahren systematisch das Licht weit entfernter explodierender Sterne untersucht. Solche "Supernovae" sind die hellsten Lichter im Universum und anders als Sterne oder Galaxien alle etwa gleich hell. Über ihre Leuchtkraft lässt sich ihre Entfernung abschätzen. Und über die Rotverschiebung des Lichtes kann man zugleich ihre Geschwindigkeit bestimmen. Die Daten der Supernovae liefern so ein Maß für die Expansionsgeschwindigkeit des Universums. Dabei erhält man zugleich einen Einblick in die Geschichte unseres Kosmos: Denn je weiter entfernt ein Stern ist, umso länger braucht sein Licht, bis es die Erde erreicht - umso älter ist also das Objekt.

1998 ergaben Messungen erstmals, dass Supernovae jüngeren Datums offenbar immer schneller werden. Dieses Ergebnis wurde seither mehrfach bestätigt. Zusammen mit neueren Vermessungsberichten zur kosmischen Hintergrundstrahlung ergibt sich insgesamt folgendes Szenario: Nach dem Urknall dehnte sich das Universum zunächst in einer "inflationären Phase" mit unheimlicher Schnelligkeit aus. Nach und nach verpuffte dieser Anfangsschwung, die gegenseitige Anziehungskraft der Materie bremste allmählich die Expansion. Just zur Tagung in Baltimore präsentierte der Astronom Adam Riess dafür einen Beleg: Die fernste je gesichtete Supernova, die vor zehn Milliarden Jahren Entfernung verglühte und deren Geschwindigkeit zeigt, dass das All damals in der Bremsphase war. Doch vor rund 7,5 Milliarden Jahren gewann der Kosmos plötzlich wieder an Fahrt. Seither nimmt die Geschwindigkeit der Supernovae deutlich zu. "Das Universum verhält sich wie ein Autofahrer, der beim Zufahren auf eine rote Ampel abbremst und plötzlich aufs Gas tritt, wenn es grün wird", staunt Adam Riess.

Fragt sich nur: Wer oder was beschleunigt da? Denn eine solche Kraft, die sich erst nach einigen Milliarden Jahren bemerkbar macht, indem sie galaktische Materie auseinander treibt, kennt die Physik nicht. Auf der Erde wurde eine solche "Antischwerkraft" jedenfalls noch nie beobachtet. Nur auf kosmische Distanzen scheint sie wirksam zu sein. Um diese bislang verborgene All-Macht wenigstens zu benennen, hatte der Astrophysiker Michael Turner von der University of Chicago den Begriff "dunkle Energie" vorgeschlagen, in Anlehnung an die "dunkle Materie", die schon länger in den astronomischen Gleichungen auftaucht.

Dunkel heißt dabei zunächst: unsichtbar. Sowohl die dunkle Materie als auch die Energie sind nicht direkt zu beobachten, sondern offenbaren sich nur über ihre Wirkungen. Die dunkle Energie spielt dabei in dem sich aufblähenden All gewissermaßen die Rolle der kosmischen Hefe; die Dunkelmaterie dagegen ist der Teig, der alles zusammenhält. Nur durch die Annahme großer Mengen unsichtbarer Materie ist beispielsweise die Bildung der großräumigen Strukturen im All zu erklären. "Die dunkle Materie und die dunkle Energie sind das Yin und Yang des Universums", formuliert Michael Turner poetisch. Die eine ziehe Masse zusammen und führe so zur Bildung materieller Strukturen, die andere dagegen verteile diese Strukturen sanft im Raum.

Damit allerdings wird der Kosmos gleich von zwei Dunkelziffern regiert, denn die Supernova-Daten und weitere astronomische Beobachtungen lassen sich nur dann in Einklang bringen, wenn man annimmt, dass sich das All zu etwa 30 Prozent aus dunkler Materie und zu 65 Prozent aus dunkler Energie zusammensetzt. Die bekannten chemischen Elemente, aus denen auch die Erde besteht, sind dagegen - kosmologisch betrachtet - von verschwindender Bedeutung. Fazit des Astrophysikers Turner: "Wir leben in einem grotesken Universum."

Damit nicht genug. "Warum", so wundert sich Tagungsleiter Mario, "macht sich die abstoßende Kraft im Universum erst jetzt bemerkbar?" Auf die erstaunte Nachfrage eines Journalisten, die Beschleunigung des Alls habe doch schon vor Milliarden Jahren begonnen, replizierte Livio trocken: "Ach, wissen Sie, für uns Kosmologen spielen einige Milliarden Jahre mehr oder weniger keine Rolle." Höchst erstaunlich sei dabei, so schreibt Livio auch in seinem Buch The Accelerating Universe, dass die abstoßende Kraft im All just zu jener Zeit überhand nahm, als die Entwicklungsgeschichte der Erde begann.

Manche Physiker haben als Antwort auf dieses Why now?-Problem das "anthropische Prinzip" vorgeschlagen, demzufolge die Gesetze im Universum gerade so und nicht anders beschaffen seien, dass sie die Existenz intelligenter Wesen ermöglichen - eine Erklärung, die irgendwo zwischen Mystizismus und Banalität angesiedelt ist. Die in Baltimore versammelten Experten wollten sie jedenfalls nur als "letzten Ausweg" gelten lassen. "Lasst uns vorher versuchen, diese Nuss physikalisch zu knacken!", sprach Michael Turner sich und seinen Kollegen Mut zu.

In der Tat gibt es eine ganze Reihe von Entwürfen, das bisherige Weltbild so zu erweitern, dass darin sowohl die dunkle Materie als auch die dunkle Energie ihren Platz finden. Spannend ist dabei zu sehen, wie die Erkenntnisse der Kosmologen über die Ausdehnung des Alls und diejenigen der Quantenphysiker über die Strukturen der Mikrowelt immer stärker ineinander greifen. "Das Universum wird zu einem gigantischen physikalischen Experiment", beschreibt der Theoretiker Andreas Albrecht diese Entwicklung.

Für die Dunkelmaterie sind zum Beispiel verschiedene exotische Elementarteilchen im Gespräch, deren Natur bisher verborgen blieb. Die intensive Suche danach hat in den vergangenen Jahren immerhin Teilerfolge erbracht: So haben die Teilchenphysiker den flüchtigen Neutrinos nachgestellt, winzigen Elementarteilchen, die weder auf elektrische, magnetische noch auf radioaktive Kräfte reagieren und bislang als masselos angesehen wurden. Ausgeklügelte Experimente haben nun gezeigt, dass die Geisterteilchen offenbar doch eine, wenn auch verschwindend geringe Masse auf die Waage bringen. Da sie im Universum im Übermaß vorhanden sind, könnte dies durchaus einen Beitrag zur dunklen Materie liefern. Allerdings liegt dieser Anteil vermutlich unter einem Prozent.

Immerhin zeigen solche Ansätze, dass für das Dunkelmaterieproblem prinzipiell Lösungen denkbar sind, die sich in das bisherige "Standardmodell" einfügen lassen. Die Existenz der dunklen Energie dagegen erfordert wohl einen fundamentalen Umbau im physikalischen Theoriegebäude.

Als Erklärung bietet sich einmal die "kosmologische Konstante" an, eine Größe, die schon Albert Einstein in die Physik einführte, sie allerdings später als "größte Eselei" wieder aus den Formeln seiner Relativitätstheorie verbannte. Nach dem Motto "Was gut genug für Einstein war, ist auch gut genug für uns" wird diese Konstante nun wiederbelebt und mithilfe der Quantentheorie als "Druck" des Vakuums gedeutet.

Nach den Formeln der Quantenmechanik ist der leere Raum nämlich mitnichten völlig leer, sondern angefüllt von ständigen Energiefluktuationen. Diese addieren sich zwar im Mittel zu null, erzeugen aber eine gewisse Energiedichte. In kosmischem Maßstab könnte dieser negative Druck des Vakuums die Galaxien auseinander treiben. Einziger Schönheitsfehler: Die quantenmechanischen Berechnungen ergeben einen Wert, der rund 120 Zehnerpotenzen größer ist als jener, den die astronomischen Beobachtungen erfordern. Dies sei die "schlechteste Vorhersage" in der Geschichte der Physik, witzeln daher Theoretiker. Mit Leuten, die die kosmologische Konstante benutzten, lästert etwa der Astrophysiker Robert Dixon, würde er "nicht mal Kaffee trinken".

Daher hat in jüngster Zeit die Idee der "Quintessenz" an Popularität gewonnen. Der Begriff ist aus der Antike entlehnt und bezeichnet eine "fünfte Substanz", die laut der griechischen Naturphilosophie neben den vier klassischen Elementen - Erde, Wasser, Feuer, Luft - das Universum erfüllen soll. Die Theoretiker Paul Steinhardt und Jeremiah Ostriker beschreiben die Quintessenz als ein "Quantenkraftfeld", das "ein wenig einem elektrischen oder magnetischen Feld ähnelt und gravitativ abstoßend wirkt".

Dieses Kraftfeld ist allerdings noch nirgendwo experimentell nachgewiesen, seine Eigenschaften leiten die Physiker einzig und allein aus der Theorie her. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass ein theoretisches Postulat erst später experimentell bestätigt würde. Erstaunlich ist immerhin, dass Steinhardt und Ostriker schon 1995 die Beschleunigung des Universums vorhersagten - drei Jahre bevor die ersten Supernova-Messungen dies belegten. Seither haben die beiden Theoretiker Oberwasser. Zudem bieten sie sogar eine Erklärung für das Why now?-Problem: Die Quintessenz trete mit der Materie in Wechselwirkung, werde dadurch im Laufe der Zeit immer stärker und mache sich deshalb erst fast zehn Milliarden Jahre nach dem Urknall bemerkbar.

Weitere unkonventionelle Gedankenspiele gefällig? Bitte sehr: Manche Physiker denken ernsthaft darüber nach, ob nicht vielleicht neben unserem All noch viele weitere Universen existieren. Wenn es einen Urknall gab, warum dann nicht mehrere, ja vielleicht unendlich viele? Möglicherweise ist die beschleunigte Expansion unseres Kosmos ja darauf zurückzuführen, dass irgendwo ein anderer Kosmos "zieht"? Andere Theoretiker dagegen erwägen die Möglichkeit, dass sich die Lichtgeschwindigkeit im Laufe der Ausbreitung unseres Alls verändert - dann müssten die Supernova-Messungen völlig neu gedeutet werden.

Dem freien Spintisieren der Zunft sollen bald handfeste Experimente ein Ende bereiten. In den nächsten Jahren startet eine Reihe von neuen Beobachtungssatelliten - wie die Microwave Anisotropy Probe, die diesen Sommer abhebt - die so manchen Theorieentwurf bestätigen oder widerlegen wird. "Wir leben in extrem spannenden Zeiten", freut sich Mario Livio.

Vielleicht weist ja das Problem der dunklen Energie gar einen Weg, die Gesetze des Alls und der Mikrowelt endlich in Einklang zu bringen. Erst wenn wir das Allerkleinste und das Allergrößte miteinander verbunden haben, so glauben jedenfalls Steinhardt und Ostriker, kennen wir auch unseren Platz in der kosmischen Geschichte. Bis dahin bleibt dieser - wie so vieles andere im All - im Dunkeln.

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