Die Unwucht der Welt

Physiker ergründen die Asymmetrie des Alls. Sie sehen in ihr den Schlüssel unserer Existenz

von Ulrich Schnabel

Es war eine richtungsweisende Arbeit, mit der zwei theoretische Physiker im Jahre 1927 in der Fachzeitschrift Nature brillierten: Statt sich mit den Tücken der Quantenmechanik herumzuschlagen, analysierten Pascual Jordan und Ralph de Laer Kronig die Wiederkäubewegung von Rindvieh. Genaue Untersuchungen hätten gezeigt, daß beide möglichen Drehrichtungen des Unterkiefers in der Natur vorkämen, berichteten die beiden bedeutungsvoll. "Statistische Erhebungen bei Kühen im Verbreitungsgebiet von Nordsjälland, Dänemark, haben zu dem Ergebnis geführt, daß ungefähr 55 Prozent von ihnen rechtsdrehend, die restlichen linksdrehend waren." Der Anteil der Links- und Rechtskäuer sei also "näherungsweise gleich", schlossen die Theoretiker, schränkten allerdings ein: "Natürlich erlauben diese Feststellungen keine Verallgemeinerung auf Kühe anderer Nationalitäten."

Zwar ist nicht bekannt, daß dieses Resultat einen tiefgreifenden Einfluß auf die damalige Wissenschaft gehabt hätte. Dennoch schnitten Jordan und de Laer Kronig in ihrem Beitrag ein Problem an, das sich in den kommenden Jahrzehnten als eines der schwierigsten der modernen Physik herausstellen sollte: Ist die Natur symmetrisch - oder bevorzugt sie möglicherweise bestimmte Richtungen? Verdanken wir vielleicht unsere Existenz nur einem asymmetrischen Webfehler in den Naturgesetzen?

Mit ausgefeilten Experimenten sind die Physiker dieser Frage seit rund fünfzig Jahren auf der Spur. Nun scheinen sie der Antwort ein kleines Stück näher gekommen zu sein. Im Zerfall bestimmter Elementarteilchen haben Forscher am Fermilab in Chicago kürzlich eine winzige, aber entscheidende Asymmetrie entdeckt - ein Ergebnis, das die Amerikanische Physikalische Gesellschaft in der vergangenen Woche auf ihrer 100. Jahrestagung vollmundig als "die Teilchenphysik-Story des Jahres" feierte. Während allerdings Amerikas Physiker jubelten, regte sich in Europa Widerspruch. Nicht in Chicago, sondern im Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik (Cern) in Genf sei die atomare Asymmetrie erstmals nachgewiesen worden, reklamierten Cern-Forscher verärgert.

Bei dem Expertenstreit geht es um die grundlegendste aller Fragen: Warum existiert die Welt überhaupt? Wie konnten aus einem ursprünglich richtungslosen Urknall oben und unten, links und rechts, Materie und leerer Raum entstehen? Kurz: Warum gibt es etwas und nicht einfach nichts?

Die Frage ist deshalb so knifflig, weil in den Gleichungen der Physiker jahrhundertelang die Vollkommenheit der Symmetrie regierte. Auf den himmlischen Bahnen hielten sich Massenanziehung und Fliehkraft der Planeten die Waage, in der irdischen Mechanik regierte Isaac Newtons Devise "Actio gleich reactio", und in der Mikrowelt der Elementarteilchen stimmten die Gleichungen selbst dann noch, wenn man darin die Zeit rückwärts laufen ließ. Ja, der Glaube an die göttliche Ausgeglichenheit der Natur war so stark, daß darauf ganze Theoriegebäude errichtet wurden. Symmetrie-Überlegungen führten Albert Einstein 1905 zu seiner Relativitätstheorie und animierten 1928 den Theoretiker Paul Dirac, neben der gewöhnlichen Materie noch eine "Antimaterie" zu postulieren.

Die Suche nach Ästhetik führte zur Entdeckung der Antimaterie

Getreu der Devise, daß "eine mathematisch schöne Theorie eher wahr als eine häßliche" sei, verknüpfte Dirac die Relativitätstheorie Einsteins mit der soeben entdeckten Quantenmechanik. Seltsamerweise erhielt er dabei zwei Lösungen - eine für normale Elementarpartikel und eine für solche mit negativer Energie. Ein wankelmütiger Geist hätte möglicherweise daraufhin die ganze Rechnung verworfen. Nicht so Dirac: Überzeugt von der Ästhetik seiner Gleichung, beharrte der eigenwillige Brite darauf, daß es für die negative Lösung eine physikalische Entsprechung geben müsse, eine Art Antiteilchen, das umgekehrt geladene Gegenstück eines normalen Partikels.

Tatsächlich wurde vier Jahre nach Diracs Theorie das erste Antiteilchen entdeckt. Der Physiker Carl Anderson, der die aus dem All herunterregnende kosmische Strahlung analysierte, stieß dabei auf einen bizarren Zwilling des Elektrons, ausgerüstet mit derselben Masse, jedoch umgekehrter Ladung: ein Positron. Seither gehört die Antimaterie zum festen Repertoire des physikalischen Weltbildes und der Science-fiction-Autoren.

Als vor Jahren im Cern erstmals die Herstellung eines kompletten Antiwasserstoffatoms gelang (ZEIT Nr. 3/96), kam es kurzzeitig zu einer wahren Antimaterie-Euphorie. Da wurde über Antimaterie-Antriebe à la Raumschiff Enterprise spekuliert, vor Antimaterie-Bomben gewarnt und Antiwelten in der Weite des Alls postuliert. Doch bald beruhigten sich die Phantasten wieder. Schließlich waren im Cern mit gewaltigem energetischen Aufwand ganze neun Antiatome erzeugt worden - die nach wenigen milliardstel Sekunden schon wieder zerfielen. Die Produktion größerer Mengen für irgendwelche Raumantriebe oder Superbomben sei "jenseits jeglicher technologischer Möglichkeiten", enttäuschte das Forschungszentrum Jülich alle Visionäre. Auch die Hoffnungen auf die Begegnung mit Antiwelten mußten begraben werden. "Wenn ihr an einem Mädchen aus einer Antiwelt Gefallen findet", warnte der Astronom Rudolf Kippenhahn, "so muß die Beziehung unbedingt platonisch bleiben." Denn sobald Materie und Antimaterie sich berühren, verwandeln sie sich in einer kurzen Explosion zurück in schiere Energie.

So blieb die Entdeckung vor allem ein später Triumph für die Theoretiker und ihren unverbrüchlichen Glauben an die Ästhetik der Symmetrie. Auf ihr beruht selbst die naturwissenschaftliche Schöpfungsgeschichte. Der Erzählung vom Big Bang zufolge war am Anfang ein allgewaltiger, höchst symmetrischer Energieblitz. Erst später "gefror" daraus gewissermaßen die Materie - und zugleich die Antimaterie. Ohne dieses negative Gegenstück kommt nämlich keine symmetrische Schöpfung aus. Das merkt jedes Kind, das im Sandkasten einen Berg aufhäufen will: Dazu muß notgedrungen an anderer Stelle ein Loch entstehen. So ähnlich, meinen die Kosmologen, habe es sich auch mit Materie und Antimaterie verhalten.

Der Bauplan des Universums läßt an der gottgegebenen Symmetrie zweifeln

Doch kaum war die physikalische Schöpfungsgeschichte perfekt, da schlich sich schon der Zweifel in die ästhetische Theorie. Schließlich ist heute im gesamten All die Antimaterie ausgestorben. Nur in den Teilchenschleudern der Hochenergielabors läßt sie sich kurze Zeit erzeugen. Eine natürliche Existenz dagegen scheint ihr versagt. Warum?

Kosmologen entwerfen dazu folgendes Szenario: Nach ihren Berechnungen entstanden kurz nach dem Urknall Teilchen und Antiteilchen gleichermaßen - doch sobald diese sich begegneten, zerstoben sie schon wieder in einem Strahlenblitz. Bis heute läßt sich der Nachhall dieses Feuerwerks als sogenannte Hintergrundstrahlung messen. Doch bei dem kosmischen Showdown entging jeweils eines von einer Milliarde Materiepartikeln der Vernichtung - und diesen materiellen Überbleibseln verdanken wir unsere Existenz. Dies wirft natürlich sofort die Frage auf, wer für diese freundliche Asymmetrie verantwortlich ist. Spiegelt der Bauplan des Universums etwa keine göttliche Symmetrie wider, sondern enthält er bereits Vorannahmen, Präferenzen, Ungleichgewichte?

Und wenn es so war - wo ließ sich diese Asymmetrie in den physikalischen Naturgesetzen aufspüren? Bis in die fünfziger Jahre war man davon überzeugt, daß sich fundamentale physikalische Prozesse nicht ändern, wenn sie spiegelbildlich betrachtet wurden - die Parität oder P-Symmetrie bleibt erhalten, wie es in der physikalischen Fachsprache heißt. Ebenso sollten die Naturgesetze gültig bleiben, wenn man Materie durch Antimaterie ersetzte - dies wird durch die C-Symmetrie beschrieben (von charge = Ladung). Gäbe es irgendwo einen entfernten Antimaterie-Planeten, so sollten dort die Antiphysiker dieselben Erfahrungen wie ihre irdischen Kollegen machen. Antiäpfel fielen auf die Antierde, und Antizucker würde auch dort süß schmecken.

Das Vertrauen der Physiker in die vollkommene Ausgewogenheit der Natur bekam allerdings 1956 einen Riß. Damals wies die chinesische Physikerin Wu nach, daß der radioaktive Zerfall von Kobalt mitnichten spiegelsymmetrisch ist. Zerfällt ein Kobaltkern, sendet er ein Elektron immer in dieselbe Richtung (bezogen auf seinen Drehsinn) aus. Der spiegelverkehrte Vorgang dagegen tritt nie auf, der Kobalt-Zerfall ist nicht P-symmetrisch. Wenig später wurde nachgewiesen, daß zudem auch die C-Symmetrie verletzt ist - die Theoretiker waren schockiert: Auf einem spiegelbildlichen Planeten gelten demnach tatsächlich andere Gesetze als auf unserem. Das Diktum des Dichters Ernst Jandl - "Manche meinen, lechts und rinks kann man nicht velwechsern. Werch ein illtum" - scheint zumindest in der Physik nicht zu gelten.

An einen letzten Strohhalm klammerten sich die Physiker: Wenn sowohl die P- als auch die C-Symmetrie verletzt war, dann blieb vielleicht die Kombination aus beiden, die CP-Symmetrie, erhalten? Wären in einer spiegelverkehrten Antiwelt die Naturgesetze letztlich doch dieselben? Die Hoffnung hielt nicht lange. Ein unscheinbares Elementarteilchen namens Kaon brachte sie 1964 zu Fall. James Cronin und Val Fitch beobachteten, daß gewisse seltene Zerfallsprozesse des Kaons die CP-Symmetrie verletzten. Ein winziger Effekt - doch er reichte, um den Glauben an die Allgültigkeit der CP-Symmetrie zu zerstören.

Hier beginnt die gegenwärtige Suche nach dem Webfehler in den Naturgesetzen, die momentan auf den Physikerveranstaltungen so viel Aufregung hervorruft. Über dreißig Jahre nach Cronins und Fitchs nobelpreisgekrönter Entdeckung ist inzwischen klar, wo der Schuldige zu suchen ist: Nur eine der vier physikalischen Grundkräfte leistet sich solche Kapriolen. Die Symmetrieverletzungen zeigen sich allesamt in radioaktiven Zerfallsprozessen, die durch die sogenannte schwache Kernkraft beschrieben werden. Die anderen drei Grundkräfte (Schwerkraft, elektromagnetische Wechselwirkung und starke Kernkraft) dagegen bewahren die Symmetrie.

Doch ist die schwache Kernkraft selbst asymmetrisch - oder zeigt sich hier vielleicht der Einfluß einer neuen, noch unbekannten fünften Wechselwirkung, wie manche Theoretiker meinten? Aufgrund der Beobachtungen von Cronin und Fitch ließ sich diese Frage nicht entscheiden. Sie zeigten nur eine "indirekte CP-Verletzung". Erst jetzt, mit riesenhaften Teilchenbeschleunigern, lassen sich die diffizilen Prozesse im Inneren der Elementarteilchen mit hinreichender Genauigkeit studieren.

Die Hochenergiephysiker des Cern in Genf und des Fermilab in Chicago machen sich bei der Erforschung dieser Frage seit Jahren Konkurrenz. 1988 wähnte sich eine international zusammengesetzte Cern-Gruppe bereits am Ziel: Ihre Ergebnisse würden tatsächlich eine "direkte CP-Verletzung" zeigen, deren alleinige Ursache die schwache Wechselwirkung sei. Doch die Physikergemeinde blieb skeptisch. Zu groß waren die Fehlergrenzen des Experiments, zudem konnten die Fermilab-Forscher damals das Ergebnis nicht bestätigen.Mit verbesserten Apparaturen gerüstet, gingen beide Teams in den neunziger Jahren in die nächste Runde. Doch dieses Mal waren die Amerikaner schneller: Während die Cern-Forscher immer noch über ihren neuesten Daten brüten, gaben die Fermilab-Physiker bereits Ende Februar stolz ihren Fund bekannt. In der Tat wurden dabei die alten Cern-Daten bestätigt, diesmal allerdings mit wesentlich höherer Genauigkeit.

Als eine Pressemeldung des Fermilab das Resultat als eigene Entdeckung verkaufte, platzte den europäischen Konkurrenten der Kragen. Der Mainzer Physiker und Cern-Mitarbeiter Konrad Kleinknecht machte seinem Ärger Luft, indem er deutschen Zeitungen eine Richtigstellung schickte. "Die Messung der europäischen Gruppe 1988 war richtig, sie ist jetzt durch die konkurrierende amerikanische Gruppe bestätigt worden", schrieb er. Noch deutlicher wurde Kleinknechts Kollege Heinrich Wahl auf der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Heidelberg. Nachdem dort Fermilab-Forscher Myungyun Pang auf englisch die neuesten Daten aus Chicago vorgetragen hatte, ergriff Wahl auf deutsch das Wort, um dem Auditorium seine Sicht der Dinge zu schildern: Das Fermilab hätte lediglich alte Fehler korrigiert, ohne die Cern-Daten hätte es keinen wirklichen Fortschritt gegeben. Das freilich ging selbst dem Cern-Forscher Franz Eisele zu weit. "Für meine Begriffe hat die Gemeinde der Physiker gut daran getan, zu warten", hielt Eisele seinem ehemaligen Kollegen Wahl vor. Die Unsicherheit in den alten Cern-Resultaten sei einfach zu groß gewesen.

Eigentlich aber arbeiten die Streithähne höchst symmetrisch zusammen. Ergebnisse dieser Tragweite werden schließlich erst akzeptiert, wenn sie von zwei unabhängigen Experimenten bestätigt sind. Das ist den Cern- und Fermilab-Forschern nun gelungen: Der Webfehler der Natur liegt in der schwachen Wechselwirkung verborgen.

Läßt sich damit auch das Problem der Antimaterie lösen? Sagt uns dieses Experiment, woher der Materie-Überschuß kommt? "Nicht direkt", meint Fermilab-Physiker Bruce Winstein vorsichtig, "aber es könnte uns einen wichtigen Hinweis liefern." Möglicherweise gab es kurz nach dem Urknall sehr schwere Elementarteilchen (und ihre Antibrüder), die jeweils in leichtere Partikel zerfielen - allerdings aufgrund der CP-Verletzung in unterschiedlicher Weise. Das könnte den Ausschlag für das Übergewicht der Materie gegeben haben. Genaueres könne man allerdings erst nach weiteren Experimenten sagen, die die Asymmetrie der schwachen Wechselwirkung noch genauer ausleuchten.

Ob wir jemals eine endgültige Antwort finden? Werden wir eines Tages wissen, warum es etwas gibt und nicht nichts? Da in der Physik das Prinzip Hoffnung gilt, wird die Erforschung dieser Frage wohl weitergehen.

Aber vielleicht gilt ja für den Wissensfortschritt eine ähnliche Symmetrie wie für die Materieerzeugung: Jede neue Erkenntnis erzeugt an anderer Stelle ein Wissensloch. Dann können wir lange suchen.

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