Die Grenze

Naturwissenschaft lässt sich mit Bildern popularisieren, aber nur mit Mathematik verstehen

von Holm Tetens

Wer würde nicht gern wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält? Wann immer die Wissenschaftler glauben, auf die letzten Bausteine der materiellen Welt gestoßen zu sein, melden sie uns Laien ihren Fund; unterstützt werden sie von einem Heer von Wissenschaftsjournalisten. Es sind merkwürdige Meldungen.

Gegenwärtig werden wir überhäuft mit sensationell klingenden Berichten, wonach Wissenschaftler mit dem Gedanken spielen, die Welt könne aus unvorstellbar kleinen Fäden, "Superstrings" genannt, bestehen, die in einem elfdimensionalen "Raum" schwingen. Von den elf Dimensionen ließen sich nur vier, die uns vertrauten drei räumlichen Dimensionen und die Zeit als vierte Dimension, beobachten, die restlichen sieben seien zu so unglaublich winziger Größe "zusammengerollt", dass niemand sie je beobachten wird. Nicht selten werden diese Schilderungen durch Bilder wild ineinander verschlungener fadenartiger Gebilde illustriert. Haben wir uns die Bausteine der materiellen Welt also wie schwingende Fäden vorzustellen?

Um Gottes willen nein, eilig korrigieren sich die Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten, die Superstrings seien ganz und gar unanschaulich; die Rede und Bilder von Fäden und die Metapher von zusammengerollten Dimensionen sollten wir nur ja nicht missverstehen, es seien lediglich Krücken, damit wir Laien uns einem Verständnis der unanschaulichen und eigentlich unvergleichlichen Superstrings wenigstens etwas weiter annähern könnten. Genau beschreiben ließen sich die Superstrings nur in einer unermesslich komplizierten Mathematik, so kompliziert, dass sie selbst die größten mathematischen Genies ins Schwitzen brächte.

Es fragt sich, ob wir Laien nach solchen und vielen anderen, aber ähnlichen Auskünften irgendetwas von dem verstehen, was die Superstringtheorie über die Welt aussagt.

Und wer würde nicht gerne hinter das Geheimnis von Raum und Zeit kommen? Die Wissenschaft, so erfahren wir Laien, habe sich in diesem Jahrhundert unter der Federführung von Albert Einstein von den alltäglichen Vorstellungen von Raum und Zeit für immer verabschiedet. Und wieder sind die uns Laien zugetanen Dolmetscher aus Wissenschaft und Journalismus zur Stelle, diesmal um das ABC der Relativitätstheorie aufzusagen: Raum und Zeit seien untrennbar zu einem vierdimensionalen Gebilde, "Raumzeit" genannt, "zusammengeschweißt", und diese Raumzeit werde durch Materie "verbogen". Wieder sollen zweidimensionale Bilder raffiniert geformter und verbogener dreidimensionaler Körper, Pferdesattel zum Beispiel, unserem Laienverstand auf die Sprünge helfen.

Dürfen wir uns die durch Materie "verbogene" Raumzeit wie einen gekrümmten Pferdesattel vorstellen?

Um Gottes willen nein, eilig rücken unsere Helfer aus Wissenschaft und Journalismus die Sache zurecht, das seien nur mit großer Vorsicht zu genießende Versuche, das eigentlich Unanschauliche doch noch zu veranschaulichen, weil uns ja die Mathematik leider nicht zu Gebote stünde, in der allein sich das alles genau beschreiben lasse.

Es fragt sich, ob wir Laien nach solchen und vielen anderen, aber ähnlichen Auskünften irgendetwas von dem verstehen, was die Allgemeine Relativitätstheorie über die Welt aussagt.

Mit anderen Worten: Populärwissenschaft scheint ihre Tücken zu haben. Programmatisch der Allgemeinverständlichkeit verpflichtet, lässt sie ihre Adressaten, die mit der höheren Mathematik meistenteils auf Kriegsfuß stehen, eher ratlos als wohlinformiert zurück: Erst wird versprochen, mit Analogien, Bildern und Metaphern könnten auch sie trotz ihrer unzureichenden mathematischen Bildung die komplizierten Theorien noch ein gutes Stück weit erfassen. Doch anschließend werden sie eindringlich davor gewarnt, sich bloß nicht von ebendiesen Bildern, Analogien und Metaphern in die Irre führen zu lassen.

Vergleicht man ein Ding mit einem anderen, so kennt man normalerweise beide, und deshalb weiß man, wo der Vergleich trifft und wo nicht. Wird indes die gekrümmte Raumzeit mit einem Pferdesattel verglichen, kennen wir Laien den Pferdesattel, während uns die Raumzeit ein Buch mit sieben Siegeln ist. Wie sollten wir daher einschätzen können, wo der Vergleich zwischen einem Pferdesattel und der gekrümmten Raumzeit trifft und wo nicht? Wenn wir wenigstens verstünden, warum die Raumzeit mit gekrümmten Oberflächen und die Superstrings mit schwingenden Fäden verglichen werden, und wenn wir wenigstens sicher sein dürften, dass die Analogien, Bilder und Metaphern, von denen die populärwissenschaftlichen Texte überquellen, ein Fundament in der Wissenschaft haben!

Ein Dreikomponentenmodell der wissenschaftlichen Theoriebildung kann in diesem Fall weiterhelfen (siehe Abbildung). Zunächst: Jede Theorie befasst sich mit einem bestimmten Ausschnitt und bestimmten Aspekten der Wirklichkeit. Das können Galaxien, Versteinerungen von Organismen, Erdbeben, das Gehirn, die Weltwirtschaft, kognitive Leistungen von Delfinen, das Turiner Grabtuch oder was auch immer sein; vor dem Spürsinn der Wissenschaftler ist bekanntlich nichts sicher. Indem die Wissenschaftler experimentieren, beobachten und messen, tragen sie Beobachtungsdaten über einen solchen Wirklichkeitsausschnitt zusammen. Die Beobachtungsverfahren und Beobachtungsdaten bilden die erste Komponente.

Diese bereitet der Populärwissenschaft am wenigsten Kopfzerbrechen. Die Experimente, die Mess- und Beobachtungsverfahren und das dabei Festgestellte lassen sich auch dem Laien ohne größere Probleme beschreiben und durch Fotografien und Grafiken ebenso realistisch wie informativ vergegenwärtigen. Hier läuft der Laie kaum Gefahr, irreführenden Bildern und Analogien zum Opfer zu fallen. Allein, die Wissenschaft will mehr, als nur Beobachtungsdatum an Beobachtungsdatum zu reihen. Die Wissenschaftler wollen auch erklären, warum es die Phänomene gibt, die sie beobachten, sie wollen verstehen, nach welchen Regeln oder Gesetzmäßigkeiten die Phänomene miteinander zusammenhängen. Die Forscher suchen also nach einem Zusammenhang, nach einer Struktur, die Regeln oder Gesetzen gehorcht und in die sich die Beobachtungsdaten überzeugend einordnen lassen.

Doch die Beobachtungsdaten allein geben den Blick auf solche sogenannten nomologischen Strukturen nicht frei. Diese enthüllen sich den Forschern erst, wenn sie die Beobachtungsdaten als kausale Spuren unbeobachtbarer Objekte deuten. Erst dann geht den Wissenschaftlern auf einmal ein Licht auf, warum sie beobachten, was sie beobachten, warum bestimmte Daten nur zusammen mit anderen Daten auftreten, warum bestimmte Daten später andere Daten nach sich ziehen oder verhindern und Ähnliches mehr. Und auf einmal wird den Wissenschaftlern etwas möglich, was ihnen vorher nicht möglich gewesen war: Sie können neue und oftmals verblüffende Beobachtungsdaten vorhersagen.

Was zählt zu diesen unbeobachtbaren theoretischen Objekten? Nun, gerade solche für den Laien schwer verständlichen, weil unanschaulichen Objekte wie Elementarteilchen, die vierdimensionale Raumzeit oder die Superstrings.

Freilich, auch die Wissenschaftler bekommen diese theoretischen Objekte nie direkt zu Gesicht, selbst mit noch so raffinierten Experimenten nicht. Anstelle direkter Beobachtungen der Objekte verfügen die Wissenschaftler jedoch über deren mathematische Beschreibungen. Diese Beschreibungen sind wie Steckbriefe, die über alle beobachtbaren Spuren informieren, die die Objekte hinterlassen und durch die sie sich am Ende doch indirekt verraten könnten. Beobachten und messen die Wissenschaftler die vorausgesagten Spuren tatsächlich, fühlen sie sich zu dem Schluss berechtigt, dass es die hinter den Beobachtungsphänomenen vermuteten unbeobachtbaren Objekte wirklich gibt.

Es ist diese zweite Komponente, die aus der abstrakten nomologischen Struktur mitsamt den unbeobachtbaren theoretischen Objekten besteht, die für jeden wissenschaftlichen Laien zum Stolperstein wird: Wer sie verstehen will, kommt um Mathematik nicht herum.

Die Mathematik der fortgeschrittenen Grundlagenwissenschaften ist inzwischen Lichtjahre von der Schulmathematik entfernt. Wie kann die Populärwissenschaft dem Laien seriöserweise versprechen, ihm die unbeobachtbaren Objekte und Sachverhalte der Wissenschaft ohne höhere Mathematik nahe zu bringen, obwohl sie sich einem nichtmathematischen Verständnis entziehen?

Die Populärwissenschaft müsste sich in der Tat vorwerfen lassen, statt ihrem Publikum ein Licht zu stecken, es hinter ein solches zu führen - gäbe es nicht noch eine dritte Komponente der Theoriebildung.

Bisher haben wir das Problem ausgespart, wie die Wissenschaftler die nomologische Struktur eines Wirklichkeitsausschnitts entdecken. Klar ist nur so viel, dass diese abstrakte Struktur weit über das hinausgeht, was sich direkt beobachten lässt. Die Wissenschaftler müssen die nomologische Struktur erst mühsam erraten und erschließen. Dabei können sie sich niemals nur an die Beobachtungsdaten halten. Von denen führt kein logisch sicherer und bequemer Weg zu der richtigen nomologischen Struktur. Doch was sonst, wenn nicht die empirischen Daten könnte den Wissenschaftlern den Weg zur nomologischen Struktur eines Wirklichkeitsausschnitts weisen?

Dies ist eine lange Geschichte, die hier nicht vollständig erzählt werden kann. Vor allen Dingen wären glückliche Einfälle und wagemutige theoretische Fantasie zu rühmen, mit denen geniale Forscher die Kluft zwischen den oft mageren empirischen Daten und der tatsächlich vorhandenen reichen nomologischen Struktur der Welt überbrücken. In diesen Entdeckungsgeschichten wissenschaftlicher Theorien würden wir immer wieder Analogien, Bildern und Metaphern begegnen; sie sind offensichtlich der Stoff, der die theoretische Fantasie der Wissenschaftler nährt.

Gerade mathematisch beschriebene Strukturen liefern reichlich von diesem Stoff. Die abstrakten nomologischen Strukturen sind nämlich in der Regel nicht nur auf eine Weise und nicht nur in einem Wirklichkeitsausschnitt realisiert. Das fällt den Wissenschaftlern spätestens dann auf, wenn sie im Wesentlichen ein und dieselbe Mathematik benutzen können, um mit ihr das eine Mal den gesetzmäßigen Zusammenhang von Objekten eines Wirklichkeitsausschnitts, das andere Mal den gesetzmäßigen Zusammenhang von Objekten eines gänzlich anderen Wirklichkeitsbereichs zu beschreiben.

Vereinfacht gesagt, benutzen die Wissenschaftler dieselben mathematischen Gleichungen, nur interpretieren sie die darin vorkommenden Größen jedes Mal anders.

So nutzte Einstein die Tatsache, dass die abstrakte Struktur, in die man empirische Daten über Gravitationsphänomene einbetten muss, derselben Mathematik gehorcht, mit der man auch beliebig verbogene zweidimensionale Oberflächen, etwa einen Pferdesattel, analysieren kann; so nutzten Niels Bohr, Louis de Broglie, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und andere die Tatsache, dass sich ausbreitende Schwingungen von Wassermolekülen, Veränderungen elektromagnetischer Felder und Zustände von Elektronen jedes Mal durch eine Gleichung derselben Form, eben eine typische Wellengleichung, beschrieben werden können. Das heißt aber: In bestimmten Hinsichten verhalten sich Gravitationsphänomene und Sattelflächen oder verhalten sich Wasser, elektrische Felder und Elektronen gleich oder hinreichend ähnlich.

Insofern können die Wissenschaftler von bestimmten Eigenschaften der Sattelflächen auf bestimmte Eigenschaften von Gravitationsfeldern oder von bestimmten Eigenschaften von Wasserwellen auf entsprechende Eigenschaften von Licht oder Elektronen schließen - versuchsweise. Solche Schlüsse sind nichts anderes als Analogieschlüsse. Sie laufen immer nach demselben Schema ab, etwa so: Elektronen scheinen sich in bestimmter Hinsicht genauso wie Wasserwellen zu verhalten; Wasserwellen lassen sich an einem Gitter beugen: Also müssten sich vermutlich auch Elektronen an geeigneten Gittern beugen lassen. So erraten Wissenschaftler strukturelle Eigenschaften der niemals direkt beobachtbaren Elektronen, und so können sie bestimmte Eigenschaften von Elektronen durch entsprechend sichtbare Eigenschaften von Wasserwellen veranschaulichen.

Allgemeiner gesagt: Immer wieder nehmen sich Wissenschaftler gut erforschte Wirklichkeitsausschnitte mit ihrer bereits mathematisch beschriebenen Struktur zum Vorbild, um sich über Analogieschlüsse und Veranschaulichungen an die abstrakte Struktur eines anderen Wirklichkeitsausschnitts heranzutasten.

Ratewege, um die Lösung eines Problems zu finden, nennt man Heuristik, und das italienische Wort "modelo", von dem unser Begriff "Modell" abstammt, bedeutet gerade so viel wie Vorbild. Daher kann man auch sagen, dass ein Wirklichkeitsausschnitt und seine bereits mathematisch beschriebene Struktur heuristisch Modell stehen für die Erforschung eines anderen Wirklichkeitsbereichs.

Es ist offensichtlich diese dritte Komponente, die die Populärwissenschaft mehr als genug mit Analogien und Bildern versorgt.

Heuristische Modelle veranschaulichen die unanschaulichen theoretischen Objekte der Wissenschaft. Es sind dieselben heuristischen Modelle, die schon die Wissenschaftler zu Rate ziehen müssen, um der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen und sich in den komplizierten Strukturen der Welt zurechtzufinden. Ohne Analogien, Bilder und Metaphern wäre jeder Wissenschaftler blind für die Strukturen in der Welt. Mithin zapft die Populärwissenschaft lediglich nachträglich noch einmal die heuristische Kraft von Analogien, Bildern und Metaphern an, die zuvor schon die theoretische Fantasie der Wissenschaftler beflügelt und sie oft auf die richtigen Fährten gelockt hat.

In Wahrheit beginnt Populärwissenschaft also bereits in der Wissenschaft selber. Und da die Populärwissenschaft die Analogien und Bilder nicht eigens für den Laien erfindet, muss auch kein Laie befürchten, von der Populärwissenschaft mit Dingen abgespeist zu werden, die die Wissenschaftler um jeden Preis aus der Wissenschaft verbannen.

Trotzdem: Unverrückbar steht eine Grenze, über die auch die beste Populärwissenschaft dem Laien nicht hinweghelfen kann. Denn was hat ein veranschaulichendes populärwissenschaftliches Objekt aus der Alltagswelt des Laien mit einem veranschaulichten theoretischen Objekt aus den Wissenschaften gemeinsam? Was hat etwa die Raumzeit mit einem Pferdesattel zu tun? Gar nichts weiter, außer dass sich beide, das Gravitationsfeld und der Pferdesattel, durch die Riemannsche Geometrie beschreiben lassen. Daher können sich Wissenschaftler Probleme der Mathematik von Gravitationsfeldern partiell anhand der Mathematik von Pferdesatteln klarmachen und erarbeiten.

Diese Antwort provoziert beim Laien todsicher die Frage nach der Riemannschen Geometrie. Und hier gerät die Populärwissenschaft in Verlegenheit, ihre Antworten beginnen sich im Kreise zu drehen. Was haben Gravitationsfelder und gekrümmte Oberflächen gemeinsam? Die Riemannsche Geometrie. Was ist Riemannsche Geometrie? Die Mathematik, mit der sich sowohl Gravitationsfelder wie gekrümmte Oberflächen analysieren lassen. Nur durch den Blick in ein Lehrbuch der Differenzialgeometrie könnte der Laie aus dieser leer laufenden Informationsschleife ausbrechen. Es ist also just die Mathematik, die das veranschaulichte und das veranschaulichende Objekt gemeinsam haben, und damit haben sie genau das gemeinsam, was dem Laien gerade unzugänglich ist.

Was an einem Pferdesattel anschaulich ist, lässt den Laien die relevanten Eigenschaften eines an Pferdesatteln veranschaulichten Gravitationsfeldes weder erkennen noch erahnen, es sei denn, man beschriebe schon den Pferdesattel mathematisch durch die Riemannsche Geometrie. Wer jedoch mit einer solchen differenzialgeometrischen Analyse eines Pferdesattels etwas anzufangen weiß, muss seine Zuflucht nicht in populärwissenschaftlichen Darstellungen der Relativitätstheorie suchen, er könnte gleich zu einem ordentlichen Physiklehrbuch greifen, um die Relativitätstheorie aus erster Hand kennen zu lernen. Das ist das Dilemma jeder Populärwissenschaft.

Auf einem Sattel sind die kürzesten Verbindungen gekrümmt

Versprechen also populärwissenschaftliche Darstellungen hochmathematisierter Grundlagentheorien dem Laien doch zu viel? Die Hürde der Mathematik jedenfalls kann der Laie allein durch Populärwissenschaft nicht überspringen; damit sind seinem Verständnis nichtbeobachtbarer theoretischer Objekte, für die auch die Wissenschaftler korrekte Beschreibungen nur insoweit kennen, als diese in der Sprache der Mathematik abgefasst sind, enge Grenzen gesetzt. Die Populärwissenschaft sollte dem Laien hier nichts vormachen. Aber sie könnte ihm helfen, diese Grenze wenigstens zu verstehen. Was müsste sie dazu tun? Nun, sie müsste das tun, was hier versucht wurde, sie müsste die Wissenschaft wenigstens im Lichte des Dreikomponentenmodells kommentieren. Die Aussage "Die Allgemeine Relativitätstheorie lehrt, dass die Raumzeit durch die Anwesenheit von Materie verbogen wird" lässt die drei Komponenten der Theoriebildung indes kaum sichtbar werden.

Dazu ist vielmehr ein längerer Kommentar vonnöten: Die Physiker beobachten physikalische Ereignisse, die von Gravitationsfeldern herrühren. Ereignisse finden jeweils an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt statt. Um sie zu identifizieren, sind vier Angaben nötig, durch drei wird der Ort, durch die vierte die Zeit festgelegt: Ereignisse sind vierdimensional. Verschiedene Ereignisse geschehen in räumlichen oder zeitlichen Abständen voneinander. Der gewöhnliche räumliche Abstand lässt sich vom gewöhnlichen zeitlichen trennen. Der räumliche Abstand ist der kürzeste Weg, der vom Ort des einen Geschehens zum Ort des anderen führt. Lange Zeit dachte man, dass immer und überall euklidische Geraden - also die Geraden einer Geometrie der flachen Ebene - der kürzeste Weg von einem Punkt zum nächsten seien. Diese Vorstellung hat die Relativitätstheorie gänzlich über den Haufen geworfen: Nach dieser Theorie muss man den gewöhnlichen räumlichen und zeitlichen Abstand ersetzen durch einen neuartigen, rein mathematisch konstruierten raumzeitlichen Abstand, der sich nicht in eine räumliche und eine zeitliche Dimension auftrennen lässt.

Die neuartigen raumzeitlichen Abstände verhalten sich nicht wie euklidische Geraden als die uns vertrauten räumlichen Abstände. Welches die kürzeste raumzeitliche Verbindung ist, wechselt in Abhängigkeit von der Verteilung der Materie von Ereignis zu Ereignis. Körper und Licht folgen unter der Wirkung der Gravitation diesen kürzesten raumzeitlichen Verbindungen. Das ist die revolutionäre Einsicht der Relativitätstheorie.

Der Zusammenhang zwischen dem raumzeitlichen Abstand von Ereignissen und der Verteilung der Materie kann nur mathematisch ausgedrückt werden. Dazu benutzt man im Wesentlichen die gleiche Mathematik, mit der man die von Stelle zu Stelle wechselnde Krümmung einer Satteloberfläche und in Abhängigkeit von der Krümmung die jeweils kürzeste ganz in der Fläche verlaufende Verbindung zwischen zwei Punkten darstellt. Auch auf der Satteloberfläche sind nicht euklidische Geraden, sondern mehr oder weniger gekrümmte Linien am kürzesten. Deshalb sind Satteloberflächen heuristisch nahe liegende Modelle für Einsteins Theorie. Ansonsten verrät jedoch der gewöhnliche räumliche Abstand zwischen Punkten auf einer Sattelfläche nichts über den völlig unanschaulichen vierdimensionalen raumzeitlichen Abstand zwischen Ereignissen.

Wer jetzt auch nur noch ein wenig mehr über die "gekrümmte Raumzeit" wissen will, der muss sich umgehend in ihre mathematische Darstellung vertiefen. Leider. Aber billiger ist das rechte Verständnis der fortgeschrittenen Grundlagentheorien am Ende doch nicht zu haben.

Holm Tetens lehrt Philosophie an der Freien Universität Berlin

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