Die Geburt der modernen Wissenschaft

Als Männer wie Robert Boyle und Isaac Newton sich von der mittelalterlichen Fixierung auf die Wörter losmachten und stattdessen die Dinge direkt betrachteten, begann die wissenschaftliche Revolution. So zumindest die gängige Vorstellung von der Geburt der modernen Wissenschaften.

Doch das sei ein Mythos, der nicht umzubringen ist, meint der Kulturwissenschaftler Adrian Johns vom California Institute of Technology in Pasadena. In einem Nature-Artikel (Nature 409, S. 287, 2001) entwickelt er die These, dass - im Gegenteil - die moderne Wissenschaft aus dem Bedürfnis heraus entstanden sei, so viele "Wörter" wie möglich zu bewältigen.

Robert Boyle

Isaac Newton

Mehr Bücher denn je

Dazu habe die Erfindung der Drucktechnik Mitte des 15. Jahrhunderts schließlich geführt. Denn um 1500 lagen mehr Bücher gedruckt vor, als es je zuvor insgesamt gegeben hatte.

Eine Fülle an neuen Fakten

Zur selben Zeit bot die Neue Welt eine Fülle an neuen Fakten, die bewältigt werden mussten: Angefangen bei den Heilkräften der Tabakpflanze bis zum vorgeblichen Ursprung der Syphilis.

Viele der Neu- und Wiederentdeckungen stammten aus der Feder einer wachsenden Masse selbsternannter Autoren, die oft unabhängig von Universitäten oder Höfen ihren Forschungen nachgingen.

Das Ergebnis hiervon war, dass Leser sich nicht nur mit dem Problem der Quantität sondern auch der Qualität konfrontiert sahen - gar nicht unähnlich der Situation heutiger Internetuser.

Druckwerkstatt des 18. Jahrhunderts

Was verdient, Wahrheit genannt zu werden?

Was unter all den Behauptungen und Gegenbehauptungen verdiente es, als Wahrheit anerkannt zu werden? Was sollte man lesen, und wie sollte man es lesen? Die Zukunft der Kultur schien in Frage gestellt. Der Franzose Adrien Baillet warnte schon 1685, dass "die Vielzahl der Bücher, die Tag für Tag anwächst", Europa in einen Zustand zurückwerfe, "so barbarisch wie die Jahrhunderte, die auf den Fall des Römischen Reiches folgten".

Adrien Baillet

In Reaktion auf die Fülle an Literatur beeilten sich Baillets Zeitgenossen, Werkzeuge herzustellen, dem belagerten Leser zu Hilfe zu eilen. Die Renaissance sah eine Verbreitung von typographischen, lexikographischen und bibliographischen Entwürfen, um das Überangebot gedruckter Ideen zu bewältigen.

Konrad von Gesner

Konrad von Gesner mit seiner Bibliotheca Universalis (1545) war ein Pionier hierin. Gesner versuchte in diesem gigantischen Werk der Bibliothek von Alexandrien nachzueifern, die einst alle Bücher der antiken Welt beherbergt hatte. Als schließlich der letzte Band erschien, enthielt Gesners "Bibliothek" Beschreibungen von rund 15.000 Werken. Und war immer noch unvollständig.

Konrad von Gesner

Das Bücherrad Agostino Ramellis

Der Bücherschwemme Abhilfe zu schaffen versuchte man unter anderem mit technologischen Lösungen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist wohl Agostino Ramellis Bücherrad, eine Art rotierendes Lesepult, das die gleichzeitige Lektüre mehrerer Texte möglich machen sollte. Diese Erfindung kommt uns fast wie ein Vorgriff auf zukünftige Lese-Techniken vor: wie das Lesen multimedialer Texte, etwa den, den Sie gerade vor sich haben.

Agostino Ramelli

Die Leistungsfähigkeit des Lesers erhöhen

All diese Lösungen hatten eins gemeinsam: Sie gingen davon aus, dass die Vielfalt gedruckter Meinungen auf etwas reduziert werden musste, das für nur ein Augenpaar zu erfassen war. Doch das erwies sich als frommer Wunsch.

Es gab allerdings eine Alternative: Warum sollte nicht die Leistungsfähigkeit des Lesers erhöht werden, statt dass alle Bücher in eines zusammengefasst wurden?

Lesen: Ein kollektives Unternehmen

Im 16. Und 17. Jahrhundert machten in der Folge denn auch Wissenschaftler und wissenschaftlich interessierte Herren das Lesen zu einem kollektiven Unternehmen.

Zuerst beiläufig, dann mit zunehmender Formalität, teilten sie sich die Arbeit der Evaluierung neuer und wiederaufgelegter Werke. Lesungen in Gruppen wurden abgehalten, in denen die Perspektiven und die Fachkenntnisse der Teilnehmer zu einer verschmolz.

So einfach das klingt, diese Lese-Arbeitsteilung war etwas class=GramE>neues. Und zur Zeit der großen wissenschaftlichen Akademien sollte diese Kunst ihren Höhepunkt erreichen - insbesondere im Urquell der experimentellen Wissenschaften: der Londoner "Royal Society".

Royal Society

Die Vorteile der Lese-Arbeitsteilung

Die Royal Society nahm die Idee der kollektiven Lesungen auf und verankerte sie als festen Bestandteil in ihrem Programm. Komitees wurden gegründet, die sich auf Gebieten wie der Mechanik oder dem Ackerbau einlasen und die Spreu vom Weizen schieden. Das hatte drei Vorteile:

Erstens: Das gemeinsame Lesen förderte die Entstehung neuer Ideen und Forschungsanträge - die immerhin die raison d'être der Royal Society waren.
Zweitens: Da das kollektive Lesen verschiedene wissenschaftliche Blickwinkel einbezog, bestärkte dies das Selbstverständnis der Gesellschaft, unparteiisch und undogmatisch zu sein.

Drittens erlaubte es den wissenschaftlichen Mitgliedern, neue Bücher auf informierte Weise zu beurteilen. Denn immerhin, nur wer einen Überblick über die bestehende Literatur hatte, konnte abschätzen, ob eine neue Entdeckung tatsächlich eine solche war.

Die Vitalität der wissenschaftlichen Arbeiten anregen

Unzählige Autoren reichten ihre Erfindungen und Erkenntnisse bei der Royal Society ein, wo sie von den Komitees begutachtet wurden. Die Ergebnisse der "kollektiven Lesungen" wurden dann vor der Gesellschaft präsentiert, wo sie Anlass zu Experimenten, Gesprächen, Korrespondenzen und weiteren Lesungen gaben.

Auf diese Weise wurde das kollektive Lesen zu einem sich selbst reproduzierenden Prozess - ein Prozess, der die zunehmende Vitalität früher wissenschaftlicher Arbeiten schürte.

Trinity College aus Loggans " Cantabrigia Illustrata" von 1690. Die Räumlichkeiten, in denen Newton seine " Principia" schrieb, liegen im ersten Stock direkt neben dem Großen Tor, dessen rechter Turm auf der linken Seite des Bildes sichtbar ist.

Die erste wissenschaftliche Zeitschrift

Die Ergebnisse dieser Gutachten und Diskussionsrunden wurden hin und wieder veröffentlicht. Sie trugen ihrerseits zum Bücherberg bei. Newtons " Principia" von 1687 ist das berühmteste Werk, das diesem Prozess entstammt.

Eher jedoch erschienen die Beiträge in den " Philosophical Transactions". Das war die erste wissenschaftliche Zeitschrift. Sie diente als Vorbild für eine ganze Reihe weiterer Wissenschaftszeitschriften.

Einige dieser Journale beanspruchten, selbst wieder "Universalbibliotheken" zu sein: Eine dynamische Synopsis des menschlichen Wissens - zusammengestellt über die unzähligen Rezensionen und Kurzberichte der Ergebnisse der gemeinsamen Lesungen schienen.

Nature

California Institute of Technology

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