Die Evolution frisst ihre Kinder

Sie sehen Furcht erregend aus, knabbern an ihrem Nachwuchs herum und könnten neue Hinweise zur Entwicklung der Insekten liefern: In Madagaskar wurde jetzt eine Kolonie "Dracula-Ameisen" entdeckt.

Ameisenforscher glauben, einem wichtigen evolutionären Bindeglied zwischen Wespen und Ameisen auf die Spur gekommen zu sein. Die Kolonie der seltenen "Dracula-Ameisen", die überraschend in einem hohlen Baumstamm auf der afrikanischen Insel Madagaskar gefunden wurde, könnte zudem neue Hinweise auf das Verhalten einer der erfolgreichsten Insektenarten der Erde geben.

"Natürlich kann ein lebender Organismus nicht der vielbeschworene 'Missing Link' sein", sagt Brian Fisher. Der Forscher von der California Acedemy of Science und Entdecker des Ameisenhaufens ist seit langem auf der Suche nach dem fehlenden Bindeglied zwischen Ameisen und Wespen, aus denen sich die Ameisen vor mehreren Millionen Jahren entwickelt haben. "Aber dieser Fund hilft uns möglicherweise zu verstehen, aus welchen gemeinsamen Wurzeln Ameisen entstanden sind", so Fisher.

Während Ameisen nur rund ein Prozent aller bekannten Insektenarten ausmachen, gehören sie zu den am weitesten verbreiteten und zahlenmäßig stärksten Arten auf der Erde. Worin der Erfolg der kleinen Tiere besteht, daran forschen Wissenschaftler seit vielen Jahren.

In Madagaskar, das auf Grund seiner Insellage als Schatztruhe voller ursprünglicher Tierarten gilt, wurde die Dracula-Ameise 1993 erstmals gesichtet - jedoch nicht als vollständige Kolonie. Zu seinem Namen ist das Insekt aus der Gattung Adetomyrma auf Grund einer kannibalisch anmutenden Ernährungsweise gekommen: Wenn die Königin oder ihre Arbeiterinnen Hunger haben, suchen sie die Kinderstube der Kolonie auf. Dort schneiden sie kleine Löcher in die Ameisenlarven und laben sich am "Blut" des Nachwuchs. "Sie kauen so lange auf den Larven, bis diese bluten", sagt Fisher.

Der Forscher glaubt, auf ein Verhalten gestoßen zu sein, das es auch heute noch gibt - unter anderen Vorzeichen: Da die modernen Ameisen-Arbeiterinnen selbst keine feste Nahrung verdauen können, verfüttern sie diese an ihre Larven. Der Nachwuchs gibt einen Teil des Futters in verdauter Form zurück. Von den Arbeiterinnen aufgenommen, wird das Essen dann in der Kolonie verteilt.

Doch auch der Körperbau der möglichen Ur-Ameisen deutet auf eine frühe Entwicklungsform hin. So besitzt die Gattung Adetomyrma nur eine einzelne Verbindung zwischen Brustkorb und Unterleib - eine deutliche Verwandtschaft zu frühen Wespenformen. Bei heutigen Ameisen verbinden zwei oder drei Gelenke die beiden Körperteile. "Die Dracula-Ameisen verfügen, wenn man es so ausdrücken will, über eine Wespentaille", sagt Fisher.

Um das Verhalten und die Entwicklung der Ameisen besser verstehen zu können, soll die Kolonie nun genauer untersucht werden - mit möglicherweise weit reichenden Folgen. Neue Erkenntnisse könnten dazu führen, dass die Theorie über die Ameisenevolution neu geschrieben werden muss. Fisher: "Erste Ergebnisse haben gezeigt, dass unsere bisherigen Hypothesen falsch waren."