Der Mausklick zum Durchblick

Professionelle Surfer schaffen Ordnung im Internet

von Ulf Schönert

Wer am Arbeitsplatz im Internet surft, kriegt normalerweise Ärger mit dem Chef. Die Münchnerin Stefani Sorg surft am Arbeitsplatz und kriegt dafür Geld von ihrem Chef. "Surferin gesucht" stand über der Anzeige, auf die sie sich beworben hat, "Surferin" steht jetzt auf ihrer Visitenkarte.

"Surferin" sagt sie auch, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wird. Dann rätseln die aus der Beach-Boys-Generation, wie das möglich sein soll, mitten in Bayern. Und jene, die das Internet kennen, wundern sich, dass das ziellose Herumstromern im World Wide Web nicht nur ein Telefonkosten treibendes Hobby ist, sondern ein ganz normaler Job. Mit Weihnachtsgeld, Urlaub und vermögenswirksamen Leistungen.

Seit das Internet so groß geworden ist, dass sich ungeübte Nutzer kaum noch zurechtfinden, und seit es immer mehr ungeübte Nutzer gibt, werden Überblicksangebote - Internet-Verzeichnisse, Web-Kataloge, neuerdings auch Portale genannt - immer wichtiger. Sie teilen das Netz in Rubriken ein: Staat & Politik, Sport & Freizeit, Kunst & Kultur. In Unterverzeichnissen und Unterunterverzeichnissen sammeln sie die Links zu den besten Seiten im Web.

Etwa zehn etablierte deutschsprachige Web-Kataloge gibt es inzwischen, und noch immer kommen neue hinzu. Ob sie Yahoo, dino-online, Sharelook, Allesklar oder web.de heißen: Sie alle suchen professionelle Rechercheure, die das World Wide Web systematisch durchstöbern, Seiten sichten, beurteilen und so für den Nutzer aufbereiten.

Ein Link kann neue Welten eröffnen oder ins Leere gehen

Stefani Sorg surft für Yahoo. In einer ehemaligen Druckerei im Münchner Glockenbachviertel hat der deutsche Ableger des weltweit operierenden Internet-Unternehmens seinen Sitz. Wo früher wuchtige Maschinen tonnenschwere Papierrollen zu Zeitungen verarbeiteten, jagen jetzt unsichtbar die Datenpakete durch die Leitungen. Wenn das Internet eine Bücherei ist, dann ist hier der Katalogsaal.

"Zu sehen, wie sich das Netz entwickelt, ist das Aufregendste am Surfen", sagt Sorg. Wie es sich immer tiefer ins Unterholz vorfrisst, wie es von jeder Amtsstube, jedem Supermarkt, jeder Pfadfindergruppe, jedem Klassenzimmer Besitz ergreift.

Nicht viele kennen das World Wide Web so gut wie sie. Jeden Tag ist sie acht Stunden im Netz. Sie sieht neue Seiten entstehen, lädt immer aufwendigere Grafiken auf den Rechner und klickt Links an, von denen sie nicht weiß, ob sie eine neue Welt öffnen oder ob sie ins Leere gehen.

Stefani Sorg, 33, will so gar nicht dem Klischee vom computerversessenen Internet-Pionier entsprechen: Sie läuft in naturfarbenen Leinenklamotten herum, sie schminkt sich nicht, trägt Turnschuhe und hat die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Surfer sind keine bleichgesichtigen, Cola trinkenden Engerlinge mit Rückgratverkrümmung und Sehschwäche.

"Surfing ist keine Aufgabe für Computerfreaks. Wir nutzen den PC in erster Linie als nüchternes Arbeitsgerät", steht in der aktuellen Stellenausschreibung von Yahoo. Das sieht auch Annette Stegger vom Yahoo-Konkurrenten Allesklar so: "Informatiker, die sich bei uns bewerben, merken meist sehr schnell, dass das kein Job für sie ist."

Bei Yahoo surfen Linguisten, Germanisten, Geografen und Biologen. Bevorzugt beackern sie ihre Spezialgebiete. Sorg beispielsweise ist zuständig für Kunst und Kultur. Aber nicht nur, wie sie betont. "Im Prinzip ist bei uns jeder für alles zuständig. Ich trage auch eine Fleischerei ein."

Seltsam aufgeräumt wirkt das - fast - papierlose Internetbüro. Die insgesamt acht Surfer rollen auf Drehstühlen hin und her und schweigen. Das Klicken der Mäuse und das Surren der Kühlgebläse sind die einzigen Geräusche im Raum.

Auf einem Bild an der Wand, gelb eingerahmt, lächeln Jerry Yang und David Filo. Gerade einmal sechs Jahre ist es her, dass sie in ihrer Studentenbude Yahoo gründeten. Monatelang durchstreiften sie das Netz, notierten sich die spannendsten Stellen und präsentierten sie auf eigenen Seiten.

Mit dem Verkauf von Werbebannern machten sie ein paar tausend Dollar. Dann wurde eine Venture-Kapital-Firma auf sie aufmerksam - das brachte ein paar Millionen Dollar. Schließlich gingen sie an die Börse. Jetzt sind sie Milliardäre.

Eine bruchlose Vita ist in einem Unternehmen, das von zwei Studienabbrechern gegründet wurde und geführt wird, nicht das Entscheidende. "Liebe zum Internet, Begeisterung für das Medium" gelten als wichtigste Tugenden für Bewerber, sagt Unternehmenssprecherin Claudia Strixner. "Über alles andere kann man reden". Typisch sei höchstens der atypische Lebenslauf. "Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, später einmal bei Yahoo zu arbeiten?"

Stefani Sorg auf jeden Fall nicht. Ihre berufliche Karriere begann bei einem Hersteller von Faltenbälgen - so heißen die Gummiteile in der Mitte von Gelenkbussen. Dort lernte sie alles, was man als Kauffrau braucht, und sie lernte auch, dass sie niemals Kauffrau werden wollte. Sie ging nach München, studierte Volkswirtschaft, jobbte als Freie bei einer Tageszeitung, sattelte auf Kommunikationswissenschaften um, machte ein Praktikum bei einer Bank, arbeitete als Werkstudentin bei einem Verlag, machte ihr Examen. An der Universität lernte sie das Internet kennen. Und lieben. "In dem Bereich wollte ich was machen." In einer Zeitung entdeckte sie die Yahoo-Anzeige, bewarb sich und wurde genommen. Das war vor eineinhalb Jahren. Im Internet-Zeitalter ist das eine halbe Ewigkeit.

Extra angelernt wurde sie nicht. Für eine formelle Ausbildung sei man personell zu eng besetzt, heißt es bei Yahoo. Im übrigen sei Surfing noch kein staatlich anerkannter Beruf, sagt Stephan von Pfetten, ebenfalls Studienabbrecher und als "Lead-Surfer" für den Inhalt des Yahoo-Katalogs verantwortlich. Auch Praktikumsplätze gibt es nicht. "Bis sich ein neuer Surfer bei uns eingearbeitet hat, dauert es mindestens ein halbes Jahr."

Stefani Sorg klickt die Seite des Carneval-Vereins Groß-Gerau an. Inhalt: Bilder vom letzten Grillfest, aktuelle Termine, Vereinsgeschichte, Mitglieder, Kontakt. Nicht berauschend, aber in Ordnung. "Die meiste Arbeit besteht im Lesen und Bewerten neuer Sites, die bei uns angemeldet werden", sagt Stefani Sorg. Und korrigiert sich sofort: "Nicht angemeldet, sondern vorgeschlagen."

Darauf legt Yahoo Wert: Man ist eben keine Suchmaschine, die unterschiedslos auf jede Seite linkt, in der das Suchwort vorkommt. Yahoo sichtet, bewertet, nimmt auf - oder lehnt ab. "Ein Vorschlag ist wie eine Presseerklärung", sagt Unternehmenssprecherin Claudia Strixner, die sich mit Presseerklärungen gut auskennt. "Ob er berücksichtigt wird oder nicht, entscheiden wir." Die Seite der Groß-Gerauer Karnevalisten ist gut gemacht, wenn auch noch ausbaufähig. Immerhin: Die Links stimmen, die Seite ist professionell gestaltet. Sorg fasst den Inhalt in einer Zeile zusammen, fügt die Web-Adresse hinzu und schickt alles per E-Mail an die Produktion. Die Techniker stellen es dann spätestens am übernächsten Tag ins Netz. Der Narren-Webmaster bekommt noch eine E-Mail - fertig, die nächste Anmeldung wartet schon.

"Surfing ist redaktionelle Arbeit", sagt Sorg und verweist auf ihre Vergangenheit als freie Journalistin. Nazistisches und pornografisches Material sortiert sie aus. Positive Überraschungen haben die Chance, zur "Web-Seite der Woche" aufzusteigen. Für den Anbieter der so geehrten Seite bringt das, wie es in der Online-Sprache heißt, "Traffic": Mehr Datenverkehr bedeutet mehr Besucher und damit mehr Werbeeinnahmen.

Yahoo-Mitarbeiter erhalten oft unehrenhafte Angebote

Alle wollen zu Yahoo. Wer ein neues Angebot ins Netz stellt, meldet sich an, beziehungsweise schlägt vor. 90 000 Adressen enthält der Yahoo-Katalog bereits. Die Warteliste ist so lang, dass es Wochen dauert, bis die neue Seite ins Verzeichnis aufgenommen worden ist.

Immer häufiger erreichen die Yahoo-Mitarbeiter deshalb unehrenhafte Angebote ("Würde es helfen, wenn wir ein paar Mark in die Kaffeekasse einzahlen?"), um eine Seite im Katalog zu platzieren. Das erzählt Sorg nicht ohne Stolz, zeigt es doch, wie wichtig Yahoo ihre Arbeit geworden ist. Dass solche Angebote "selbstverständlich" ignoriert werden, betont sie mit noch mehr Stolz. "Wir sind unabhängig", sagt sie und wird dabei sehr ernst.

5,5 Millionen Nutzer wissen das zu schätzen. Doch niemand weiß, ob das so bleibt. Abonnements gibt es nicht, Markentreue kaum. Die Abstimmung mit dem Mausklick entscheidet nicht nur über das Schicksal der Venture-Kapital-Investoren im Silicon Valley, sondern auch über die Zukunft von Stefani Sorg. Die damit wenig Probleme hat. "Die Zeiten, in denen man irgendwo angefangen und dort bis zur Rente durchgekloppt hat, sind doch längst vorbei."

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