Das Weltbild Albert Einsteins

Aus DIE ZEIT Nr. 4 vom 26. Januar 1950, S. 4

Das Weltbild Alte die Erde und setzte die Sonne in den Mittelpunkt der Welt. Welch einer Welt? Immer noch der endlichen, begrenzten Welt des Altertums, umschlossen von dem Gewölbe aus Kristall, an dem die Fixsterne wie Diamanten angeheftet sind. Erst Giordano Bruno glaubte an die Unbegrenztheit des Weltalls. Er erklärte alle Fixsterne für Sonnen, die frei im Raum schweben. Noch auf dem Scheiterhaufen sang er das Lied von der Unendlichkeit der Welt. Aber erst in unseren Tagen wird diese Unendlichkeit ausgelotet.

Das dabei üblich gewordene Maß ist die Entfernung, die das Licht in einem Jahre zurücklegt, 10 Billionen Kilometer. Alle Sterne, die wir mit bloßem Auge sehen, gehören einem Haufen von Sternen an, der die Form einer flachen Linse erfüllt, mit einem Durchmesser von etwa 100.000 Lichtjahren und einer größten Dicke von 10.000 Lichtjahren. Es ist unsere wohlvertraute Milchstraße. Einer von ihren rund 10 Milliarden Sternen, irgendwo ganz am Rande, ist unsere Sonne.

Auch unsere Milchstraße ist nichts Besonderes; sie ist nur eine unter 100 Millionen, soweit wir heute wissen. Augenblicklich reichen unsere Fernrohre bis 500 Millionen Lichtjahre in den Kosmos hinaus. Wenn wir mit dem neuen 5-Meter-Spiegel auf dem Mount Palomar in Kalifornien noch einmal so weit blicken werden, werden wir den Raum höchstwahrscheinlich auch weiterhin mit Milchstraßen oder "Nebeln", wie der Astronom sie nennt, erfüllt finden. Stellen wir uns diese Nebel, deren jeder einige 10.000 Lichtjahre Durchmesser hat und einige Milliarden Sterne umfasst, in der Größe von Tennisbällen vor, so wären diese Bälle zwar unregelmäßig im Raum verteilt, aber im Durchschnitt ergibt sich ein gegenseitiger Abstand von 10 Metern. Es gibt also keine "Fix"sterne. Alle Sterne bewegen sich innerhalb ihrer Nebel, und alle Nebel bewegen sich im Raum.

Trägheit und Schwerkraft

Die moderne Astronomie rechnet bei den gewaltigen Mengen von Sternen nur statistisch mit Durchschnittswerten. Dagegen herrscht in der kleinen Welt der alten Astronomie jene unübertroffene mathematische Präzision, mit der Sonnen- und Mondfinsternisse und der Lauf jedes einzelnen Planeten auf die Sekunde genau vorausberechnet werden. Diese klassische Himmelsmechanik, ein unsterbliches Werk menschlichen Geistes, war die Arbeit von Isaac Newton, der sie 1687 vollendete. Nur zwei Gesetze sind es, die den Lauf der Gestirne bestimmen. Vermöge der Trägheit würde ein Körper, auf den überhaupt keine Kraft wirkt, im leeren Raum auf einer Geraden mit gleichbleibender Geschwindigkeit beständig weiterlaufen. Zwischen allen Körpern aber wirkt eine Schwerkraft, die Gravitation, mit der sie sich gegenseitig anziehen. Diese Kraft wird mit wachsendem Abstand zwischen zwei Körpern schwächer. Jede Bewegung eines Körpers im leeren Raum, auf den sonst keine Kraft wirkt, wird so in zwei Anteile zerlegt. Lediglich diese beiden Erscheinungen liegen allen Berechnungen im Planetensystem zugrunde. Aber das Planetensystem ist sehr klein. Sein Durchmesser beträgt nur etwas mehr als ein Tausendstel Lichtjahr. Was bedeutet das schon in einer Welt, deren Dimension in Hunderten von Millionen Lichtjahren gemessen wird? Und so erhebt sich die Frage: Gilt die Himmelsmechanik Newtons allgemein in dieser ganzen Welt oder nur in Räumen von der Größe des Planetensystems? Bei der Behandlung dieser fundamentalen Frage kommt man zunächst zu einem negativen Ergebnis, nämlich: Wenn der ganze unendliche Raum mit Sternen erfüllt ist, dann kann in ihm das Newtonsche Gravitationsgesetz nicht gelten.

Die vierte Dimension

In unseren Tagen ist nun neben die klassische Theorie eine moderne Gravitationstheorie getreten, die "Allgemeine Relativitätstheorie" von Albert Einstein, im Jahre 1916. Einstein hatte 1905 fundamentale Schwierigkeiten der Physik dadurch behoben, daß er eine neue Definition der Zeit aufstellte. Hatte man die Zeit bisher an der Umdrehung der Erde gemessen (unsere Uhrzeiger tun ja weiter nichts, als daß sie diese nachahmen) so maß Einstein sie an der Ausbreitung des Lichtes. Und offenbar ist damit der der Natur angemessene Zeitbegriff gefunden. Denn Minkowski entdeckte, daß diese Zeit als vierte Dimension zusammen mit dem Raum einen neuen "Raum" bildet, das heißt ein Gebilde, in dem die Gesetze der Geometrie herrschen.

Diese Union von Raum und Zeit wird die "Welt" genannt. Der revolutionäre Gedanke der Einsteinschen Gravitationstheorie ist nun darüber hinaus die Einführung der "nicht-euklidischen" Geometrie in die Physik. In ihr haben Ausdrücke wie "die Krümmung" oder "die Gerade", die wir mit geläufigen Vorstellungen verbinden, einen ganz anderen Sinn. Für das logische Denken kommt es nicht auf die Vorstellungen des einzelnen an, sondern allein auf die objektiven Begriffe.

Definiert ist die gerade bekanntlich als "die kürzeste Verbindungslinie zwischen zwei Punkten". Verbinden wir etwa auf einem Tennisplatz je irgend drei Punkte durch Geraden miteinander, so zeigt sich das Gesetz, daß in allen beliebigen Dreiecken immer die Summe der drei Winkel 180 Grad beträgt. Machen wir aber unsere Dreiecke größer, mit Seiten von 50 oder 100 Kilometern, so finden wir, daß das Gesetz nicht mehr stimmt; die Winkelsumme ist immer verschieden, nur ist sie immer mehr als 180 Grad. Wir erklären nun eine Fläche, in der die Winkelsumme im Dreieck stets 180 beträgt, als "in sich eben". Flächen, in denen sie kleiner oder größer ist, nennen wir "in sich gekrümmt". Durch Messen auf der Erdoberfläche stellen wir fest, daß in ihr andere geometrische Gesetze gelten als auf dem kleinen Tennisplatz. Das geschieht gänzlich ohne Verwendung der ja nur theoretisch erlernten und ja auch erst spät erfundenen Vorstellung der Erde als einer Kugel, das heißt einer im Raum gekrümmten Fläche. Nur vom dreidimensionalen Raum aus gesehen, wird die Gerade auf der Kugel zu einem Kreis im Raum.

Fingieren wir einmal die Existenz von kleinen platten Flächenwesen, Insekten, denen die Vorstellung der dritten Dimension, oben/unten, fehlt. Diese Wesen finden dann auf der Kugel eine andere Geometrie als in der Ebene. In der Ebene herrscht die euklidische Geometrie. Sie können zu einer Geraden durch einen Punkt, der außerhalb der Geraden liegt, eine Gerade ziehen (und zwar nur eine einzige), die die erste Gerade nicht schneidet; die Parallele. Auf der Kugel suchen sie aber vergebens nach der Parallelen. Jede Gerade durch den Punkt schneidet die erste gerade und sogar zweimal. So hat jede Fläche in sich eine ihr eigentümliche zweidimensionale Geometrie.

Dem geläufigen Begriff der Krümmung nach sind der Zylinder und der Kegel gekrümmte Flächen. Sie sind aber "in sich" eben, denn beliebige auf ihnen gezeichnete Dreiecke haben die Winkelsumme von 180 Grad. Für die Flächenwesen sind sie Ebenen. Tatsächlich können wir ja einen Bogen Papier zu einer Tüte, das heißt zu einem Kegel, falten oder zu einem Zylinder zusammenrollen. Wir können aber eine Bogen Papier nicht zu einer Kugel aufrollen, wie die Kugel "in sich" gekrümmt ist. Wegen dieser Vielheit von "nicht-euklidischen" oder "nicht-ebenen" Geometrien, die sich uns so eröffnen (eine der größten Entdeckungen des 19 Jahrhunderts!) wird nun der bisher eindeutige Begriff der "Geraden" gänzlich unbestimmt! Er wird erst wieder bestimmt und eindeutig, wenn man die Fläche angibt, in der die Gerade liegt. Zu jeder nicht-euklidischen Geometrie gehört die für sie charakteristische Gerade. Alles das gilt nun auch für den Raum. Außer dem uns durch die Erfahrung gegebenen euklidischen ebenen Raum, an dem sich, weil wir in ihm leben, unsere Raumanschauung entwickelt hat, gibt es unübersehbar viele "in sich gekrümmte" Räume, in denen nicht-euklidische Geometrien herrschen. Zwar kann da unsere euklidische Raumanschauung nicht folgen. Aber der Mathematiker kann die hier waltenden Verhältnisse exakt zahlenmäßig in Formeln fassen. Soviel von der neuen Mathematik.

Wir aber haben es mit der Wirklichkeit, mit der Natur zu tun. Und da müssen wir zunächst einmal wissen, was wir denn unter einer wirklichen Geraden verstehen wollen. In der Mechanik von Newton ist die Gerade erklärt als die Bahn eines materiellen Punktes, auf den keine Kraft wirkt, und die er vermöge seiner Trägheit mit unveränderter Geschwindigkeit durchläuft. Als der zu ihr gehörige Raum ist (vor der Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrien) stillschweigend der euklidische Raum vorausgesetzt. Das alles mußte gesagt werden, um nunmehr zum Verständnis der Gravitationstheorie von Einstein, der "Allgemeinen Relativitätstheorie", vorzustoßen.

Einstein kein Relativist

Die Lehre Einsteins ruht auf zwei Pfeilern, einer Tatsache und einer befreienden Idee. Die Tatsache ist, daß sich Schwere und Trägheit gar nicht voneinander unterscheiden und sich daher nicht voneinander trennen lassen. Das weiß jeder Flieger. Wenn diese Unterscheidung nämlich möglich wäre, dann müßte es gelingen, im Flugzeug die Richtung der Schwere und damit die zu ihr senkrechte Ebene des Horizonts festzustellen. Und das kann man nicht. Die in der alten Mechanik übliche Spaltung der einen Bewegung eines frei fliegenden Körpers in zwei, in Trägheits- und Schwerebewegung, ist künstlich. Sie geschieht ganz willkürlich in bezug auf einen jeweils als "ruhend" angenommenen Beobachter. Die Behauptung der "Ruhe" eines Körpers sagt aber nichts über den Körper aus, sondern über den Beobachter des Körpers. Sie ist nicht objektiv, sondern subjektiv. Nur für "mich" ist das Haus in "Ruhe", weil ich mit ihm durch den Erdboden fest verbunden bin. Für einen Beobachter über der Erde beschreibt das Haus einen Kreis um die Erdachse. Und für einen Beobachter auf der Sonne rollt dieser Kreis wieder auf einem Kreis ab, nämlich der Bahn der Erde. Jeder von diesen Beobachtern zerlegt die Bewegung in Trägheits- und Schwere-Anteil anders. Gegenüber diesen nur relativen Aussagen der Mechanik Newtons stößt Einstein nun zum Absoluten durch. Da Trägheit und Schwere sich als äquivalent erweisen, ist die nur jeweils relative Spaltung der Bewegung in zwei Teile ein Hirngespinst, und an seine Stelle tritt die eine absolute Aussage: Ein frei beweglicher Körper, auf den keine Kräfte wirken, vollführt eine reine Trägheitsbewegung.

Da die Menschen sich an Worte und nicht an Begriffe halten, hat das bloße Wort "Relativitätstheorie" eine unheilvolle Wirkung gehabt, die das Werk Einsteins in der Öffentlichkeit geradezu in sein Gegenteil verkehrte. Einstein lehrt keine Relativismus, sondern er hat einen Relativismus zerstört, nämlich den der klassischen Mechanik, und die absolute Mechanik gefunden! Natürlich bleibt der bewährte Wahrheitsgehalt der alten Mechanik erhalten. Durch eine Idee, die Schranken unseres bisherigen Denkens niederreißt, kann Einstein nämlich das erste Axiom der Mechanik Newtons aufrechterhalten, den Satz, daß die reine Trägheitsbewegung eine Gerade darstellt.

Diese befreiende Idee ist der Verzicht auf die gewohnte Voraussetzung der euklidischen Geometrie! Dadurch wird der Begriff der Geraden aber nun vollkommen unbestimmt, wenn nicht der Raum angegeben wird, in dem sie verläuft. Dieser Raum ist die vierdimensionale Welt. Da, wo diese Welt leer ist, ist sie eben, da, wo sich Materie befindet, ist der vierdimensionale Raum "in sich gekrümmt". Das Maß der Krümmung ist durch die Menge der Materie bestimmt. So ist der Raum um die Sonne herum gekrümmt. Die ebene Welt hat hier einen Buckel. Und in diesem gekrümmten Raum beschreiben die Planeten vermöge ihrer Trägheit ihre Geraden. In der durch die Sonne gekrümmten Welt sind die elliptischen Bewegungen der Planeten Geraden.

Es gibt keine Tatsache, die der Gravitationstheorie Einsteins widerspricht. Ja, sie hat neue Erscheinungen vorausgesagt, die tatsächlich beobachtet werden.

Das sich ausdehnende Universum

Ist Einstein über Newton hinausgekommen? In der Tat vermeidet er zunächst einmal den Widerspruch, in dem die durch die Beobachtung nahegelegte Idee des von Sternen erfüllten unendlichen Weltenraumes zu dem Gravitationsgesetz von Newton steht. Da die Welt um jeden Stern herum in sich gekrümmt, auch weithin von kosmischem Staub erfüllt ist, müssen wir den Raum als Ganzes mit einer durchschnittlichen Krümmung denken. Dieser, einer vierdimensionalen Kugel entsprechende "sphärische" Raum hat mit der Kugelfläche von zwei Dimensionen die Eigenschaften gemein, daß er unbegrenzt, aber nicht unendlich ist. Unserer euklidischen Raumvorstellung erscheint das widerspruchsvoll. Aber das Flächenwesen auf der Kugel findet nirgends eine Grenze, seine Welt ist nirgends "zu Ende" und doch ist sie nicht unendlich groß, denn die Kugelfläche hat eine bestimmte Größe. So ist auch der sphärische Raum unbegrenzt (es gibt kein Ende der Welt) und doch ist sie nur von endlicher Größe und von einer sehr großen, aber endlichen Anzahl von Sternen erfüllt. Genau so wie die Größe einer Kugel allein durch die Krümmung ihrer Fläche, nämlich durch ihren Radius, gegeben ist, so ist die Größe der sphärischen Welt durch ihre durchschnittliche Krümmung bestimmt. Und diese wieder hängt allein ab von der Menge der in der Welt vorhandenen Materie.

Über diese kann die beobachtende Astronomie noch keine Zahlen angeben. Würde die Materie in der gesamten Welt so dich sein wie in der Milchstraße, so würde man für die Größe des Universums etwa 10 hoch 75 Kubikmeter erhalten. Aber diese sphärische Welt Einsteins versagt in einem Punkt. In ihr sind keine größeren Bewegungen von Sternen und Sternhaufen möglich. Da machte der holländische Astronom de Sitter 1917 die Entdeckung, daß im sphärischen Raum dann Bewegung möglich sei, wenn dieser Raum sich in stetiger Ausdehnung befände, also ständig aufgeblasen würde wie eine Seifenblase. Man wird verstehen können, daß viele Leute anfingen, diese "Phantasien" von Mathematikern allmählich für Hirngespinste zu halten. Diese Schätzung wandelte sich sehr, als der Amerikaner Hubble an wachsendem Material von Jahr zu Jahr sicherer die berühmte "Flucht der Spiralnebel" entdeckte. Einstweilen läßt sich die beobachtete Rotverschiebung der Spektrallinien von Nebeln nicht anders deuten, als daß die fernen Nebel in radialer Fortbewegung auseinanderstoben, und zwar mit um so größeren Geschwindigkeiten, je weiter entfernt sie sind. "Das Weltall ist eine platzende Granate". Und wenn man zurückrechnet, wann diese Explosion begonnen haben muß, so kommt man auf einen "Anfang der Welt" vor etwa 10 Milliarden Jahren. Daß diese neuen revolutionierenden Erscheinungen auf dem Boden der "Allgemeinen Relativitätstheorie" zwanglos ihre Erklärung finden, ja, daß auf diesem Boden die merkwürdige Idee eines sich ausdehnenden Universums entstand, bevor die entsprechenden Tatsachen entdeckt wurden, zeigt, daß die Einsteinsche Theorie einen Fortschritt der Erkenntnis über Newton hinaus bedeutet.

Die Wissenschaften vom Bau des gesamten Weltalls, die Kosmologie, und von der Entstehung und Entwicklung des Universums, die Kosmogonie werden stets unsicher und von Hypothesen belastet sein. Aber der Mensch wird nie aufhören, danach zu fragen. Neben der Theorie von Einstein gibt es noch andere Theorien, um die Tatsachen der modernen astronomischen Forschung zu erklären. Aber das Bild, das diese liefert, ist viel zu verschwommen, um heute eine Entscheidung unter den Rivalen zu liefern. In der Kosmologie ihrer Zeit gaben Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton ihre unsterblichen Antworten. Diese Welt ist heute ein Mikrokosmos, ein Tausendstel Lichtjahr gegenüber einer Milliarde Lichtjahren! Und so lautet die Frage von heute: Wo ist das unseren Kosmos umfassende Weltgesetz? Einstein hat eine neue "Allgemeine Theorie der Schwerkraft" geschaffen. Wir kennen sie noch nicht. Enthält sie das neue Weltgesetz, das Weltgesetz unseres Kosmos?