Das flimmernde Klassenzimmer

Nie mehr Ärger mit den Lehrern, nie wieder Schule. In Amerika lernen schon eine Million Kinder zu Hause vor dem Bildschirm

von Michael Schwelien

Für Steve und Shawn beginnt die Schule, wenn Mutter Pia, die Katze Stripes auf dem Arm, vom Sofa aus mit der Fernbedienung den Fernseher einschaltet. Es läuft Discovery, kein Spielfilm, sondern ein Lernprogramm. Der Schulbus ist längst weg, für die beiden Jungen, elf und zwölf Jahre alt, hat der Morgen gemütlich begonnen, wie immer. Steve und Shawn fallen sozusagen aus dem Bett ins Klassenzimmer. Sie betreiben, wie die Amerikaner es nennen, Home-schooling.

Es ist Mittwoch morgen, in den nächsten beiden Stunden verfolgen die beiden Jungen vier Unterrichtseinheiten. Sie sehen Finken im Windkanal fliegen, und sie hören, wie die besten Architekten die Bauweise von Wolkenkratzern erklären. Kein Lehrer könnte den beiden Jungen die Welt so anschaulich und kompetent erklären wie diese Sendung. Gebannt sitzen sie da, Steve, der Elfjährige, an seine Mutter gelehnt. Shawn steht zwischendurch auf und geht an den Kühlschrank, Cola holen.

Die Staatsschulen taugen nicht viel.

Kaum sind die beiden Stunden vorüber, wälzt sich Steve vom Sofa. »I'm going online, Mom.« Schon sitzt er am Computer im Kinderzimmer. Der Fernsehsender Discovery hat im Internet Web-Seiten eingerichtet. Steve kann sie anklicken und das gerade Gelernte vertiefen. Shawn, der ältere, der nicht so schnell war, muss sich derweil mit normalen Schulbüchern beschäftigen. Er wäre, ginge er auf eine normale Schule, in der siebten Klasse. Also nimmt er sich sein My Seventh Grade Super Yearbook vor, ein zerfleddertes Schulbuch für Lesen, Rechnen, Gesundheit und Sachkunde. Es würde ihm aber mehr Spaß machen, am Computer zu arbeiten.

Die Hawkins sind einfache Leute. Rick, der Vater, steht früh auf und geht zur Arbeit bei der Deerfield Builders Supply Company, einem Baumarkt, wo er Vorarbeiter ist. Pia, die Mutter, ist ein Morgenmuffel, weil sie oft erst um zwei Uhr nachts nach Hause kommt.

Sie arbeitet als Kellnerin in der Bahia Cabana, einer Kneipe in Fort Lauderdale in Südflorida. Ihr Haus im kleinen Deerfield Beach haben die Hawkins für 63 000 Dollar gekauft. Ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer. Dazu kommt nur noch ein Anbau mit zwei Schreibtischen: das Schulzimmer. Trotzdem steht der Computer nicht dort, sondern im Kinderzimmer, in dem gerade noch Platz ist für zwei Betten, zwei Regale und den Käfig für den Leguan Pete. Den Computer ins Kinderzimmer zu stellen hat den Vorteil, dass einer der Jungen online lernen kann, während der andere ungestört im Schulzimmer mit Büchern und Heften arbeitet.

Pia Hawkins, die in Schweinfurt aufgewachsen ist, erinnert sich mit Schrecken daran, wie sie in der Schule Rechnen paukten. Die Kinder mussten sich an der rückwärtigen Wand des Klassenzimmers aufstellen. Immer wenn eines von ihnen eine richtige Antwort gab, durfte es einen Schritt vorwärts gehen. Das Ziel war es, zum Lehrerpult zu kommen. Die kleine Pia war ein bisschen langsam und ein bisschen schüchtern - sie kam nie von der Wand weg.

Insofern verbindet Pia Hawkins mit Schulen keine angenehmen Gedanken. Für das Home-schooling hat sie sich entschieden, weil sie ihren Söhnen schlechte Erfahrungen ersparen will. In Amerika taugen die öffentlichen Schulen nicht mehr viel. Die Anforderungen an die Schüler sind minimal. Schlimmer noch, die Schulen in den Innenstädten sind gefährlich geworden. Konflikte werden mit Waffen ausgetragen. Metalldetektoren und Wachleute an den Schuleingängen regen inzwischen niemanden mehr auf. Sie sind Normalzustand.

Steve ging sehr ungern auf die öffentliche Schule. Er kam nach Hause und stieß nur hervor: »Ich hasse die Schule, ich hasse sie.« Oft war er krank. Und Shawn, der schulfreudigere, der auf eine christliche Privatschule ging, weil ihm an der staatlichen Schule nichts abverlangt wurde, hatte die religiöse Botschaft allzusehr verinnerlicht. Er kam nach Hause und teilte freudig mit: »Ich hoffe, ich sterbe bald, damit ich endlich eins mit dem Herrn Jesus sein kann.«

Da fiel es den Eltern leicht, sich für das Home-schooling zu entscheiden. Sie mussten nicht fürchten, dass sie ihre Jungen so von anderen Kindern fernhalten. Isoliert war Steve auch an der Schule, weil er Angst hatte vor der Gewalt der Banden. Freunde haben die Brüder nun in der Straße, in der sie wohnen.

Die Alternative zum Computer daheim wäre für beide Jungen eine nichtreligiöse Privatschule gewesen. Aber zweimal 500 bis 1000 Dollar Schulgeld im Monat können sich die Hawkins nicht leisten. Für den PC samt Software und die CD-ROMs mit den Unterrichtsmaterialien haben sie knapp 3000 Dollar ausgegeben. Die Telefongesellschaft Bell South verlangt für den Internet-Anschluss eine pauschale Monatsgebühr von gerade 19,95 Dollar. Und die Gebühr für das Kabelfernsehen beträgt wenige Dollar. Drei, vier Lernprogramme sind damit zu empfangen, werbefrei.

Das Home-schooling war zunächst eine Sache der christlichen Fundamentalisten. Ihnen ist die Evolutionstheorie, wie sie an öffentlichen Schulen gelehrt wird, ein Greuel. Sie möchten, dass ihre Kinder die Entstehungsgeschichte der Menschheit so lernen, wie sie im Alten Testament steht. Ferner ist ihnen ein Dorn im Auge, dass die amerikanische Verfassung eine streng laizistische Schule vorsieht, in der Schulgebete ebenso verboten sind wie das Aufhängen von Kruzifixen. Da aber nicht überall im Land kirchliche Schulen in erreichbarer Entfernung stehen und da die vorhandenen kirchlichen Schulen Gebühren erheben, ließen die Strenggläubigen ihre Kinder zu Hause unterrichten.

Pia ist Lehrerin und Schülerin zugleich.

Heute lernen mehr als eine Million amerikanische Schüler mit Hilfe von Computer und Fernseher. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Zahl der Familien, welche die Schule im Kinderzimmer als Ausweg zwischen unzulänglichen öffentlichen Schulen und unbezahlbaren Privatschulen wählen, mindestens verdreifacht. Mit Hilfe des Internet vollzieht sich eine stille Revolution, bald auch in Deutschland. Die Idee, der Staat sei der beste Lehrmeister und nur er habe das Recht, Schulen zu bauen, Lehrer auszubilden und Lehrpläne aufzustellen, ist überholt. Es steht zu erwarten, dass die deutschen Schulbehörden sich dagegen wehren werden, auch nur einen Schüler aus ihrer Fürsorge zu entlassen. Aber Nachhilfe, ergänzenden Unterricht oder auch rein exploratorisches Lernen, das können sie nicht verbieten.

Auch in Hamburg oder Berlin lässt sich die Willoway Cyberschool (www.willoway.com) der Lehrerin Janet Hale anklicken, die von Reading im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania aus mit acht PCs vierzig über die Vereinigten Staaten verstreute Jugendliche unterrichtet. Und Tokyo und München sind dem Escondido Tutorial Service (www.gbt.org) von Fritz Hinrichs ebenso nahe wie die Wohnsitze seiner dreihundert amerikanischen Schüler, mit denen er online über Homers Heldensagen diskutiert.

Sollte sich Home-schooling verbreiten, könnte das für viele Frauen ein Schritt rückwärts sein. Denn Kinder, die zu Hause am Computer lernen, müssen beaufsichtigt werden - in der Regel von den Müttern. Pia Hawkins hat damit kein Problem. Sie ist froh, wenn sie zu Hause bleiben kann. Dass sie ihre Söhne betreuen muss, legitimiert diese Rolle zusätzlich. Ihr ist das lieber, als einen öden Job zu machen, damit die Familie sich eine Privatschule leisten kann. Viele Frauen werden das anders sehen, weil Home-schooling wieder den Druck erhöhen könnte, daheim zu bleiben.

Pia Hawkins sieht auch den Vorteil, dass sie selbst wieder Schülerin geworden ist. Erst jetzt, mit Mitte Dreißig, hat sie erfahren, was ein Homonym ist, ein gleichlautendes, aber in der Bedeutung verschiedenes Wort, was im Englischen häufig vorkommt. Sie lernt ohne den Druck, den sie einst erleiden musste. Aber es macht ihr Sorge, dass sie für ihre Jungen zur Lehrerin geworden ist. Nicht alle Fragen, die das Lernprogramm offenlässt, kann sie beantworten.

Einmal im Jahr werden Shawn und Steve gegen Entgelt geprüft. Nur wenn sie den Test bestehen, dürfen sie weiterhin zu Hause bleiben. Der Lehrer, der sie testet, steht im regulären Schuldienst. Was Schüler im siebten Schuljahr der öffentlichen Schule wissen müssen, das sollen Home-schooler im selben Alter genauso beherrschen.

© Die Zeit