Seismologen sagten Erdstöße in der
Westtürkei schon vor zwei Jahren voraus - allerdings innerhalb der nächsten
30 Jahre. Potsdamer Wissenschaftler arbeiten vor Ort an einem
Frühwarnsystem.
Vor zwei Jahren haben türkische und amerikanische Wissenschaftler ein schweres Erdbeben für die nordanatolische Verwerfung innerhalb von 30 Jahren vorhergesagt. Für geologische Zeiträume, die in Jahrmillionen gemessen werden, war das sozusagen eine punktgenaue Prognose. Trotz aller Fortschritte der Geophysiker - den für alle Bewohner der Region entscheidenden Zeitpunkt am Dienstagmorgen, 03.02 Uhr Ortszeit, konnten sie nicht wissen. Das ist das Dilemma der Erdbebenforscher. Seit Jahren werden ihre Prognosen immer genauer - sie sind aber noch weit davon entfernt, unmittelbar bevorstehende Erdstöße registrieren zu können.
"Die Meteorologen haben es da viel einfacher", sagt Rainer Kind, Professor am Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam. Sie haben Satelliten, die ihnen die Wolkenbewegungen zeigen und relativ exakte Vorhersagen ermöglichen. Forscher wie der Seismologe Kind versuchen mit ihren Instrumenten, in die Erde hineinzuhorchen, um die Bewegungen der Erdplatten zu erforschen. Mehrere Mitarbeiter des Instituts sind inzwischen in der Türkei, um nach dem Beben Messungen vorzunehmen. Am Donnerstag soll mit der Installierung eines neuen Systems begonnen werden, mit dem das Epizentrum bei Izmit untersucht werden soll.
Für die Türkei gilt mittlerweile als sicher, dass die nordanatolische Verwerfung in den vergangenen 70 Jahren von Westen nach Osten aufgerissen ist; die Erdbeben wanderten systematisch von Osten nach Westen. Das GFZ hat bereits ein Messsystem vor Ort, dessen Daten nun ausgewertet werden. Möglicherweise könne aus den Signalen die Entstehung des Erdbebens nachvollzogen werden, sagt Kind. "Das wäre dann eine Nachsage und keine Vorhersage." Auch wenn es den Opfern nicht hilft und den Überlebenden keinen Trost spendet, jedes gut und möglichst nahe am Herd vermessene Erdbeben bringt die Forschung voran.
Auch die amerikanisch-türkische Studie,
die vor zwei Jahren im britischen
"Geophysical Journal" veröffentlicht wurde, ist ein Beispiel für die Fortschritte bei
den Vorhersagen. Ausgehend von seismischen Statistiken hatten die Forscher um
James Dieterich zwei Abschnitte der nordanatolischen Verwerfung ermittelt, in
denen die Spannung zwischen den Platten besonders groß sind. Das Beben vom Dienstag
liegt in einem der beiden Abschnitte. "Das ist wirklich beeindruckend",
sagt Luca Jones, die Chefwissenschaftlerin der US-Erdbebenwarte in Pasadena
in Kalifornien.
Maximal 30 Sekunden für Istanbul
Aufgrund der Unzulänglichkeit langfristiger Prognosen versuchen Erdbebenforscher seit Jahren, den betroffenen Einwohnern zumindest kurzfristige Warnungen zukommen zu lassen. Die Potsdamer Seismologen arbeiten an einem System, das Erdbeben registriert und in Bruchteilen von Sekunden an Behörden in Großstädten übermittelt. Bis dort die Erdstöße eintreffen, die an der Oberfläche und durch das Erdinnere wandern, könnten Gas- oder Wasserleitungen geschlossen werden und die Menschen relativ sichere Orte aufsuchen. Im günstigsten Fall allerdings hätte Istanbul mit seinen 7,8 Millionen Einwohnern nur 30 Sekunden Zeit. Die Computer brauchen noch sehr lange, bis Ort und Stärke eines Bebens ermittelt sind. Die GFZ-Wissenschaftler arbeiten an einer Verbesserung ihres Rechensystems, wozu auch die Daten des jüngsten Bebens beitragen sollen.
In Mexiko-Stadt gibt es bereits ein Frühwarnsystem. Es wurde nach dem Beben von 1985, das 10.000 Tote forderte, auf den Weg gebracht. Nach Angaben des mexikanischen Katastrophenschutzes stehen maximal 50 Sekunden zur Verfügung, um die Bevölkerung zu informieren und Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Da die Sensoren an der Pazifikküste aber nur bestimmte Gebiete abdecken, wird nicht jedes Beben registriert. Außerdem hat es seit seiner Installation mehrere Fehlalarme gegeben, was heftige Kritik der Bewohner hervorgerufen hat.
Die Vorhersagen der Geophysiker sind derzeit, auch um solch irrtümliche Warnungen zu vermeiden, sehr vage und erstrecken sich über mehrere Jahre. Der Potsdamer Kind ist überzeugt, dass in Zukunft mit einem genügend hohen Aufwand in Einzelfällen relativ sichere Prognosen möglich sein werden. Ob die Geophysiker aber jemals die Genauigkeit der Wettervorhersage erreichen, da ist Kind skeptisch. "Dazu sind die Vorgänge in der Erde einfach zu komplex. Wir werden wohl nie genügend Informationen haben, um zu verstehen, was da unten passiert."