800 Millionen Menschen sind chronisch unterernährt

Fast jeder sechste Mensch auf der Erde muss hungern. Dies geht aus dem neuesten Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hervor.

Die Ursachen des Hungers

Ursachen für die Gefährdung durch Hunger sind nach Angaben der FAO sowohl Naturkatastrophen als auch von Menschen verursachte Probleme wie Bürgerkriege, Vertreibungen und Auseinandersetzungen zwischen Nachbarländern. Am schwersten betroffen ist Afrika, wo rund 27 Millionen Menschen ohne Hilfe von Außen nicht überleben könnten.

Betroffen sind überwiegend Entwicklungsländer

Allein in Ostafrika sind 18 Millionen akut gefährdet. So benötigen laut FAO in Kenia nach Dürre bedingten Ernteausfällen 4,4 Millionen Einwohner dringend Lebensmittel. In Eritrea wird die Lage von 300.000 Opfern der Trockenheit und 1,5 Millionen Menschen, die ihr Zuhause durch Krieg verloren haben, als kritisch eingestuft. In Äthiopien, wo im Vorjahr über zehn Millionen Menschen betroffen waren, ging die Zahl der unmittelbar Gefährdeten auf 6,2 Millionen zurück, berichtete die FAO.

In Asien sind an die 25 Millionen Menschen von drastischer Nahrungsmittelknappheit betroffen, aber auch Europa bleibt nicht verschont: Rund eine Million Menschen auf dem Balkan, vor allem in Jugoslawien, aber auch in der Russischen Föderation erhält weiterhin Nahrungsmittelhilfe.

Die Nahrungsmittelproduktion

Bei der Nahrungsmittelproduktion zeichnen sich gegensätzliche Trends ab: Während bei Getreide für das laufende Jahr ein Rückgang der Erntemenge von 1,8 Prozent (von 1.885 Millionen Tonnen auf 1.852 Millionen Tonnen) erwartet wird, rechnen Experten bei Fleisch mit einem Anstieg um etwa fünf Millionen Tonnen auf 237,5 Millionen Tonnen (2000: 232,8 Millionen Tonnen). Ein Rekordertrag von über 124 Millionen Tonnen wird für die Fischerei erwartet.

Ist das Welternährungsproblem ein Verteilungsproblem ?

Über 800 Millionen Menschen auf der Erde sind chronisch unterernährt. Die meisten von ihnen sterben an Krankheiten, die die Folge mangelnder Ernährung sind. Sie bebauen ausgemergelte Böden und brauchen extrem widerstandsfähige Pflanzen, die in Dürrezonen gedeihen.

Über die Suche nach dem richtigen Weg aus der Hungerkatastrophe ist ein erbitterter Disput zwischen Wissenschaftern, Entwicklungshelfern und Umweltschützern entbrannt.

Verschiedene Lösungsansätze

Den großen Schlag gegen den Hunger in der Welt verspricht die Gentechnik. Geworben wird mit verlockend einfach klingenden Lösungen. In Laboratorien sollen resistente Pflanzen gezüchtet werden: Zum Beispiel Mais mit einem eingebauten Gen gegen Schädlinge oder salzresistente Tomaten, die mit Meerwasser gedeihen.

Entwicklungshelfer kritisieren jedoch die global operierenden Nahrungsmittelkonzerne, da sich die Firmen ihre Gentech - Züchtungen patentieren lassen und die Saatgutpreise in die Höhe treiben. Tatsächlich finden nur 10 Prozent aller gentechnischen Freilandversuche in Entwicklungsländern statt. Konzern wie BASF sehen ihre Chancen eher auf den gigantischen Nahrungsmärkten in den Industrieländern.

Alternativen zur Gentechnik

Eine Alternative zur Gentechnik stellen jedoch auch klassische Züchtungsmethoden dar. Ein aufsehenerregendes Projekt verfolgt das Bremer Forscherehepaar Thomas Hurek und Barbara Reinhold-Hurek. Sie entdeckten in Nepal eine seltene Reissorte, die in stickstofffreiem Wasser wächst. Diese Reissorte gedeiht auch auf kargen Böden und könnte auch ohne teuren Dünger gute Erträge erzielen. ROBIN HOOD DER REISBAUERN

Reis ist eine wichtige Pflanze im Kampf gegen den Welthunger. Ein Bremer Forscherpaar entdeckte in Nepal eine seltene Sorte, die in stickstofffreiem Wasser wächst.

Kontrollzwang packt den nepalesischen Zöllner. Energisch deutet er auf ein verdächtiges Pflanzenbüschel, das aus dem leicht zerschlissenen Tramper-Rucksack hervorguckt. Misstrauen steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Traditionell lösen höchstens Hanf und Mohn derart heftige Reflexe bei den Grenzbeamten in der Abflughalle von Katmandu aus. Seit einiger Zeit aber auch Reis.

Thomas Hurek und Barbara Reinhold-Hurek haben ein halbes Dutzend Büschel im Gepäck. Die zartgrünen Halme sind eine kleine biologische Sensation. Die Bremer Biologen ahnen es nur noch nicht. Genauso wenig wie der Grenzer. Dennoch blättert er penibel durch den Stapel offizieller Bescheinigungen, die ihm das Forscher-Ehepaar über den Tresen geschoben hat.

Die Hureks sind geduldig. Sie wissen, dass der Reis im Handgepäck seine Unschuld verloren hat, seit ganze Abteilungen westlicher Saatgutkonzerne in Südasien Jagd auf die Nutzpflanze machen. Suchtrupps bringen seltene Sorten außer Landes, wo sie weitergezüchtet und patentiert werden sollen. "Bei so viel krimineller Energie ist verständlich, dass der Staat um sein pflanzliches Erbe kämpft", meint der Forscher.

Die Hureks könnten so etwas wie die Robin Hoods der armen Reisbauern werden. Das verrät ein Blick in die feuchtheißen Zuchtcontainer des Instituts an der Bremer Universität, wo die Reisbüschel aus Nepal gelandet sind: Sie sprießen in einer Glasschale, die mit einer stickstofffreien Nährlösung gefüllt ist. Ohne einen Krumen Erde.

Gleißendes Licht von 80 000 Lux strahlt auf die Versuchspflanzen herab. Ein Gebläse pustet unentwegt 35 Grad heiße Luft mit 75 Prozent Feuchtigkeit in die Box. Der Reis in drei anderen Schälchen hat längst aufgegeben. Barbara Reinhold-Hurek raschelt mit ihrer Hand durch die verdorrten Halme. "Das sind herkömmliche Sorten", kommentiert sie.

Im Forschungslabor nebenan lüftet ihr Mann das Geheimnis der Pflanzen. Er hat einen Querschnitt aus der Wurzel unter das Mikroskop gelegt. Im Innern der Wurzel lässt sich ein grünes Knäuel erkennen: "Das ist eine Kolonie von Azoarcus-Bakterien. Sie verwandeln Luftstickstoff in Ammonium, eine Form des Stickstoffs, die von der Pflanze verwertet werden kann", erklärt Hurek diese bizarre Lebensgemeinschaft. "So gedeiht der Reis auch auf kargen Böden und könnte auch ohne teuren Dünger gute Erträge erzielen."

Von Bohnen, Erbsen und Lupinen ist schon lange bekannt, dass ihre Wurzeln mit Stickstoff fixierenden Bakterien in Symbiose leben. Reis jedoch, glaubte die Wissenschaft bislang, gehe kein praktisches Untermieter-Verhältnis mit derartigen Bakterien ein. Vor ein paar Jahren entdeckten die Hureks die Azoarcus-Bakterien an einer pakistanischen Grasart, die mit dem Reis biologisch eng verwandt ist. Am Ende der Welt, im unterentwickelten Nepal, machte sich das Ehepaar auf die Suche: Dort in den einsamen Bergtälern bestellen die Bauern ihre Felder mit wildem Reis, den noch kein Forscher jemals zu Gesicht bekommen hat.

Die Entdeckung der Hureks hat enormes Potenzial: Reis ist mit einer Weltjahresernte von knapp 600 Millionen Tonnen die Universalwaffe im Kampf gegen Hunger und Unterernährung. "In Afrika, Südamerika und Asien hängt für Millionen von Menschen das Leben an dieser Pflanze", erklärt Peter Beyer, Molekularbiologe an der Universität Freiburg. Pflanzenforscher rund um den Globus suchen deshalb den zukunftsträchtigen Turboreis zu entwickeln. Auf der Suche nach mehr Ertrag kreuzen sie unzählige Sorten miteinander.

Ziel ist, die Ernte von bislang maximal acht auf künftig zwölf Tonnen pro Hektar zu steigern. Gentechniker versuchen, Sequenzen aus der Erbinformation von Mais in den Reis zu schmuggeln. Auf diese Weise wollen sie die effektivere Fotosynthese der Futterpflanze auf den Reis übertragen.

Auch der Qualität der Reiskörner soll gentechnisch nachgeholfen werden. In ihrem Innern stecken jede Menge Sattmacher: wichtige Proteine und Kohlenhydrate - nicht aber Provitamin A. Dem Freiburger Reisexperten Beyer ist es gemeinsam mit Zürcher Forschern gelungen, die Pflanzen mit Provitamin A anzureichern. Die zuständigen Gene klauten sie von Narzissen und Bakterien, die ehemals weißen Körner leuchten nun gelb.

Sein Forscherkollege, der Schweizer Pflanzenbiologe Ingo Potrykus, versucht sich auch an Eisen, einem wichtigen Stoff für die Blutbildung. "Damit wäre vor allem Frauen in Entwicklungsländern geholfen", begründet Potrykus sein Interesse.

Das Dilemma aller dieser Powerpflanzen: Sie brauchen bisher riesige Mengen künstlichen Stickstoffdüngers, der in einem energieaufwendigen chemischen Verfahren synthetisiert wird. Umweltschützer warnen: Die Lösung des Ernährungsproblems ginge so auf Kosten des Klimas. Außerdem begünstigen die üblichen Stickstoffdüngersorten in den Nassreisfeldern Asiens und Amerikas die Ausdünstung von Methan.

Unablässig steigt dieses Faulgas aus dem Schlamm der idyllischen Reisterrassen. "In der Atmosphäre trägt es deutlich stärker zur Erwärmung des Planeten bei als Kohlendioxid", konstatiert Reisforscher Hurek.

Einen Ausweg aus dem Teufelskreis könnten die Azoarcus-Bakterien weisen. Für Reisforscher beginnt nun die Suche nach dem Mechanismus, der die Pflanze befähigt, gemeinsame Sache mit den Bakterien zu machen. Dann schlägt die Stunde der Pflanzenzüchter. Am Internationalen Reisforschungsinstitut Irri auf den Philippinen sollen die überlegenen Eigenschaften vom Azoarcus-Reis in andere Sorten gekreuzt werden.

Sponsoren aus der Wirtschaft haben sich bei den Hureks noch nicht gemeldet. "Unsere Arbeit wird aber aufmerksam beobachtet", vermutet Barbara Reinhold-Hurek. Argwöhnische Interessenten gibt es genug, zum Beispiel die großen Düngemittelkonzerne. Sie machen mit herkömmlichem Hochleistungsreis die glänzendsten Geschäfte.

Nicht allen schmeckt er. Der Besitzer jenes Feldes, auf dem die Hureks den Azoarcus-Reis entdeckten, erzählte ihnen von einer erstaunlichen Beobachtung im Viehstall: Seine Büffel fräßen Reis für ihr Leben gern - den mit Kunstdünger hochgezogenen Turboreis aber ließen sie hartnäckig liegen.

Über- und Unterernährte erleiden das gleiche Schicksal

So zynisch es klingt: Das Schicksal von Über- und Unterernährten in der Welt weist Gemeinsamkeiten auf: "Beide teilen das Schicksal von Krankheiten, Behinderungen und kürzerer Lebenserwartung und sind ein Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes", so der Ernährungsexperte Gary Gardner in einer Studie des Worldwatch Institute.